Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
auf. Wer sich am hiesigen Gymnasium der selbstherrlichen Willkür der Schulleitung widersetzen wolle, könne zu einem nachmittäglichen
jour fixe
unabhängiger Schüler kommen, der in einem besetzten Institut der Universität in der Maxvorstadt stattfinde, und dort gemeinsam mit Schülern anderer Gymnasien das weitere Vorgehen bereden.
Es trifft sich gut, dass Cornelius am selben Nachmittag Tanzunterricht hat, den er aber ohnehin – seit dem panischen Fiasko der ersten, schwitzend und gehemmt übers Parkett gebrachten Stunde – regelmäßig schwänzt. Statt sich in der förmlich steifen Atmosphäre der Tanzschule mit seinem zwar hochgradig erregten, aber – anhand ebenso ängstlich befangener, schüchterner Zufallspartnerinnen – in den Gleisen des Anstands zu belassenen, unmöglich zu befriedigenden und durch diesen Umstand herb frustrierten Geschlechtstrieb zu befassen, ist er in die illusionäre Geborgenheit der Lichtspieltheater ausgewichen, wo ihn vermeintlich – außer lachhaften Zumutungen auf der Leinwand – nichts Handfestes wirklich anfechten kann. Einmal begleitet er die nymphomane Kunstfigur Barbarella, die sich nach einem aufreizenden Striptease anschickt, den blauäugigen Sieg der Liebe über das Böse zu erringen, ein andermal blickt er in die finsteren Abgründe der menschlichen Natur und folgt dem Hexenjäger Matthew Hopkins und seinem derben Folterknecht auf einem blutrünstigen Zug über die von lichten, herbstlichen Wäldern gesäumten Schafweiden von Ostengland.
Im ansonsten gähnend leeren Kinosaal rückt ihm während der Vorführung des Hauptfilms ein Zuschauer auf die Pelle, ein kleinwüchsiger Typ, der nach einiger Zeit Anstalten macht, ihn zu befingern. Von dem über die Leinwand flimmernden Streifen bekommt Cornelius kaum die Hälfte mit, er hat Mühe, die beständig nach ihm grapschende Hand des Fremden abzuwehren. Als sich nach einer halben Ewigkeit der Vorhang schließt und das Licht im Raum angeht, blickt der Junge in unstet flackernde Augen im zerfurchten, frühzeitig gealterten Gesicht eines auf Freite gegangenen Fauns. Der Mann fleht den Jungen an, mit ihm auf einen kleinen Spaziergang in den Park zu kommen oder wenigstens anderntags zur gleichen Zeit wieder zur Filmvorführung. Cornelius wimmelt ihn ab, indem er zum Schein auf das Stelldichein eingeht. Künftig schlägt er einen weiten Bogen um das ihm unheimlich gewordene Kino.
Das in einer trägen, bürgerlichen Wohngegend liegende blaugraue Gebäude des soziologischen Instituts mutet an wie ein verdreckter Taubenschlag. Reichlich unbürgerlich aussehende Gestalten flattern dort ein und aus, auf den Treppenhauswänden haben ihre Narrenhände eigentümliche Ausscheidungen hinterlassen: Eine Inschrift verspricht die schonungslose Kritik alles Bestehenden, eine andere preist die Revolution als Fest der Unterdrückten. Bis obenhin wechseln sich Zitate von Karl Marx, Lenin, Mao Tse Tung, Che Guevara und Wilhelm Reich ab mit obszönen Kritzeleien, kruden Witzen, Vietcongfahnen, Sowjetsternen, Hämmern und Sicheln und sonstigen Insignien der Weltrevolution,
art brut
der Revolte. Kilroy ist auch schon da gewesen. Besonders ins Auge stechen aber aggressive Verunglimpfungen irgendwelcher Ordinarien:
Fickt den Soundso in seinen katholischen Seifenarsch!
oder
Brecht dem Soundso die Gräten, alle Macht den Räten!
, außerdem entziffert Cornelius kryptische Mitteilungen wie
Der Stalinismus ist (k)eine Erfindung des Pentagon!
oder
Bitte den Rasen betreten!
Stapelweise liegen hektografierte Flugblätter, Aufrufe und Zeitungen in den Fensternischen und auf Treppenabsätzen. In fetten Lettern prangt darauf
Klassenkampf statt Wahlkampf, Franz Gans for President, Tragt die Unruhe in die Bundeswehr, Justizopfer, vereinigt euch, kommt alle zur Roten Knastwoche
oder einen Schlag obszöner:
Die Justiz ist eine Hure, bespringt sie
, und irgendwo steht die ulkige Aufforderung zum Geschlechtsverkehr:
Untermieter aller Länder, vereinigt euch öfter!
Der
jour fixe
der sozialistischen Schülergruppe findet in einem hohen, verqualmten, mit schlichten Stuckpaneelen verzierten Raum statt. Cornelius trifft dort nicht nur die Pausenhofagitatoren wieder, sondern auch eine überraschend starke Abordnung von Klassenkameraden, die nahezu identisch ist mit der männlichen Belegschaft des von ihm sträflich vernachlässigten Tanzkurses. Begehrliche Knabenblicke richten sich immer wieder auf die anwesende Hälfte des Himmels. Die hoffnungsfrohen Gymnasiasten
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