Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
her noch den einen oder anderen Gefallen schuldig ist und die auf gefühlsblinde Weise ihrer Freiheit Beraubten unentgeltlich zu Tode spritzt.
Im kleinen Pausenhof ist den älteren Jahrgängen aus der Oberstufe – zwischen dem Musikpavillon und dem Goldfischteich – eine Raucherecke eingerichtet worden. Sie ist ein Zugeständnis an die sogenannte Schülermitverwaltung und immer stark frequentiert. An einem Herbstvormittag gewahrt Cornelius dort zwei auffällige Neuzugänge, um die sich ein Grüppchen andächtiger Zuhörer schart. Einer mit krauser Afrofrisur überragt alle anderen Köpfe im Umkreis, sein Gefährte ist kleiner, auch schmächtiger, und hat einen Bartschatten im hageren, von fettigen Haarsträhnen eingerahmten Gesicht. Obwohl es in der Sonne angenehm warm ist, stecken beide in speckigen Hirtenjacken.
Schnell spricht sich herum, dass die bunten Gestalten im vergangenen Schuljahr aus einem Isartaler Gymnasium geflogen sind; freigiebig reichen sie eine Packung Roth-Händle herum. Der Kraushaarige erzählt gerade, wie er vor ein paar Monaten von daheim getürmt ist und sich auf eine Walz durch die halbe Bundesrepublik begeben hat. Auf einem langen und entbehrungsreichen Marsch zur Nordsee habe er versucht, den Guerilla-Alltag in etwa so nachzuleben, wie er im
Bolivianischen Tagebuch
des Che geschildert ist. Tagelang sei er Menschen aus dem Weg gegangen, habe auf nächtlichen Wanderungen durch Heide, Moor und Wälder möglichst alle Flecken, Dörfer und Städte gemieden. Tagsüber verbarg er sich im Dickicht, lagerte in Wäldern oder Schobern. Wie ein versprengter Guerillero entging er vermeintlichen Nachstellungen, widerstand in der Einsamkeit Nässe, Hunger, Kälte und der Lust aufzugeben, bis er in einer Großstadt wieder mit Gleichgesinnten Fühlung aufnehmen konnte. Bevor ihn die Polizei aufgegriffen und zu seinen Eltern zurückgebracht habe, sei er mit einigen Deserteuren der amerikanischen Armee in einer Wohnung von Anhängern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes untergekommen. Zuletzt half er angeblich dabei, ein Teach-In vorzubereiten, bei dem ein Vertreter der Black Panthers sprechen sollte, die Veranstaltung sei aber nicht zustande gekommen, weil die deutschen Behörden dem farbigen Revolutionär die Einreise verweigert hätten. Sein schmächtiger Kumpan bricht das ehrfürchtige Schweigen, das nach dieser lässigen Eröffnung einzusetzen droht, indem er unvermittelt damit prahlt, wie unmöglich es doch sei, angemessene schulische Leistungen zu erbringen, wo man doch Tag und Nacht bei geilen Weibern liegen müsse, die alle Kraft aus einem saugen würden. In die Rauchschwaden, die über den Goldfischteich ziehen, mengt sich ein Hauch von Weltrevolution und sexueller Ausschweifung.
Cornelius trifft die seltsamen Vögel außerhalb der Schule wieder, beim Konzert von
Ten Years After
macht er sie in der Menge aus, die sich vor der im Inneren des Zirkusbaus errichteten Bühne drängt, die Arme glückselig schwenkend in der stickigen, von süßlichen Schwaden geschwängerten Luft, begeistert von den virtuosen Gitarrenläufen Alvin Lees. Sein allererstes Rockkonzert erlebt Cornelius, ohne davor die Erlaubnis seines Vormunds einzuholen, der sie ihm ohnehin verweigert hätte. Weil er ahnt, wie schnell das Bild verblassen wird, versucht er, sich das festlich Entrückte des Augenblicks einzuprägen: die schon am Einlass durch hin und her schwirrende Gerüchte vom Stürmen der Kassen und Sperren erhitzte Masse, das bunte Kaleidoskop der an diesem Abend getragenen Hemden, Jacken, Mäntel, Kleider, Röcke, Ketten, Federn, Fransen und Ringe, die üppige Vielfalt der Haartrachten, der Glanz kajalgeschminkter Augen ihn wunderschön dünkender Mädchen, das exaltierte Gebaren stadtbekannter Kommunarden, die sich gefallsüchtig zur Schau stellen, der feine Staub, der im roten Licht der Scheinwerfer über dem abgeteilten Rund der Manege schwebt, die aparten Aromen von Sandelholz und Haschisch, vermengt mit dem scharfen Karawanengeruch des Zirkus.
Jenseits des Großen Teichs haben radikale Kriegsgegner die »Woodstock Nation« ausgerufen. Für einen minderjährigen Eigenbrötler hört sich das ziemlich betörend an: auf einen Schlag die bedrückende Enge der Vorstadt zu verlassen und sich umstandslos einzubürgern in die weite staatenlose Gegengesellschaft, die Gemeinschaft der als naiv verschrienen Blumenkinder.
Die große Verweigerung
. Kann der Exodus aus der als kalt und mies empfundenen Wirklichkeit
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