Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
unschwer herausgefunden hat, in einer nahe gelegenen Siedlung leben würde. Gesagt, getan. Als der Wagen durch kleine, vom Winterdienst noch nicht geräumte Straßen hindurchpflügt und vorsichtig auf die Hauptstraße hinaussteuert, fallen dicke schwarze Eisklumpen von ihm ab. Zugleich plumpst auch dem Jungen eine riesige Last von der Seele. Seine Stimmung ist licht und aufgeräumt, sie vermählt sich mit der weißen, deckungslosen Landschaft, durch die Hartmut die geräumige Limousine lenkt.
Bertha wirkt nicht sonderlich überrascht, dass ihr Kind nach so vielen Jahren vor der Schwelle steht. Offenbar weiß sie schon über Cornelius’ Flucht Bescheid und hat mit seinem Kommen gerechnet. Sie sieht nicht mehr aus wie ein verruchter Engel oder wie eine Filmschauspielerin, ihre mitgenommene Erscheinung verrät vielmehr, dass sie von einem ungnädigen Leben hart gestraft worden ist. Sie drückt den Jungen an den füllig gewordenen Leib; ihr Körper bebt, da sie sich dazu zwingt, ihre Erregung zu zügeln und die hervorsprudelnden Tränen zurückzudrängen. Ihr ist anzusehen, dass sie vor nicht allzu langer Zeit schon einmal geweint hat; das Gesicht ist aufgedunsen, die dick aufgetragene Schminke verlaufen. Der auf sie wie ein Desperado aus einem Italowestern wirkende Hartmut wird mit unverhohlener Scheu empfangen, aber nichtsdestoweniger in das Wohnzimmer der winzigen Sozialwohnung gebeten.
Auf der Couch sitzt ein untersetzter, vierschrötiger Mensch mit einem knallroten, durch unmäßiges Trinken verwüsteten und vermutlich durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmten Gesicht. Mit heiserer, von einem beständigen Husten gequälter Bassstimme heißt er den Jungen und seinen Begleiter willkommen. Der Mann ist offenbar der Lebensgefährte seiner Mutter und stellt sich als ein Herr Amberger vor.
Die vergilbten Gardinen sind zugezogen, im Raum hängt dichter Zigarettenqualm. Es ist noch heller Vormittag, und auf dem Tisch steht neben dem Frühstücksgeschirr bereits eine Flasche mit hochprozentigem Alkohol. Herr Amberger lädt seine Gäste mit großspuriger Geste zum Mitfeiern ein. Ihm zur Seite hockt eine Art Faktotum, ein einfältig wirkender, hagerer Mensch, der im Verlauf des Tages ein paar unumgängliche Botengänge erledigen wird. Er holt die Zigaretten und sorgt stillschweigend auch dafür, dass die Spirituosen nicht zur Neige gehen. Hartmut zieht sich bald aus der Affäre, er schützt vor, noch Taxi fahren zu müssen, und lässt den Jungen mit seiner Mutter und der verkrachten Gesellschaft allein.
Dort am Wohnzimmertisch, umgeben von ihm hinreichend vertrauten Gegenständen und Möbeln, deren Auswahl, obschon abgenutzt und von minderer Qualität, dem Geschmack seiner Tante keinesfalls zuwiderlaufen würde, begreift Cornelius schlagartig, dass seine Mutter und ihre Weggefährten auf ihre Weise viel tragischere Außenseiter sind als die meisten der bloß auf schrille Äußerlichkeiten und Zurschaustellung einer antibürgerlichen Haltung bedachten Freaks, denen er auf seinen erratischen Wanderungen durch die Gefilde der Subkultur begegnet ist. Wo die einen krampfhaft darum bemüht sind, sich in den vertrackten Eingeweiden der bürgerlichen Welt einzurichten, aber unverdaut wieder ausgespien werden, haben es die anderen schon von vornherein darauf angelegt, nicht von ihr verschlungen zu werden, mit Bedacht versuchen sie, sich eigene Regeln zu schaffen; darin besteht vielleicht der feine Unterschied, aber im Ergebnis läuft es auf das Gleiche hinaus.
Was kann ein Herr Amberger schon für sein auf den ersten Blick wenig einnehmendes Äußeres? Bestimmt hat er es sich nicht selbst ausgesucht, zugestoßen ist es ihm wie ein Unglück, wie ein Brandmal. Gebrandmarkte sind sie, Verworfene und Ausgestoßene, und in ihrem Verhalten liegt unverkennbar eine Art Würde und generöse Ritterlichkeit.
Bertha ist zu aufgewühlt, um die absonderlichen Ausführungen ihres Kindes zu begreifen. Stockend und umständlich legt Cornelius dar, weshalb er ungerufen wieder in ihr Dasein getreten ist, warum er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat und wieso er zu einem Kommunisten geworden ist. Was ihr Instinkt wahrnimmt und ihr Verstand billigt, ist seine unausgesprochene Bitte, ihn als Sohn anzuerkennen, ist sein stiller Ruf nach mütterlicher Sorge und Geborgenheit.
Als er das Motiv seiner Flucht mit dem selbstherrlichen Gebaren seines Onkels zu begründen versucht, braust Amberger auf: Ob er denn nicht wisse, wer sein Vater sei,
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