Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
entfährt es ihm, ob er nicht, bitte sehr, endlich zur Kenntnis nehmen wolle, wie verlogen diese rechtschaffene Familie immer schon gewesen sei, deren Angehörige fortwährend verächtlich auf alle anderen herabschauen würden, ob er denn nicht ermessen könne, was dieser ehrlose Kriminaler damals seiner Mutter angetan habe, falls er aber noch nichts davon wisse, solle er jetzt die Ohren aufsperren und die ungeschminkte Wahrheit hören, er solle erfahren, wer in Wahrheit sein Vater sei, er solle wissen, dass man ihn kurz nach der Entbindung seiner Mutter weggenommen und bald darauf sie selbst mit Schimpf und Schande aus dem Haus gejagt habe, einzig der Großvater sei über die Jahre hinweg, wenn auch heimlich, zu seiner Tochter gestanden, und der Großvater sei es auch gewesen, von dem sie bereits vor Tagen erfahren hätten, dass er von zu Hause ausgerissen sei, wofür er, Amberger, das vollste Verständnis aufbringen würde.
Zu Ambergers Tirade schluchzt Bertha, pflichtet ihm mehrmals bei. Ihre gebleichten Locken sind sorgsam gelegt, über dem Kleid trägt sie eine weiße Kittelschürze. Ein einziges Mal unterbricht sie den Redestrom ihres Gefährten, um Cornelius zu fragen, ob er denn Hunger habe, ob ihm irgendetwas fehle, ob ihm vielleicht unwohl sei.
Dem Angesprochenen entgeht nicht der befremdete Ton, womit sie ihrer Sorge Ausdruck verleiht. Zwischen ihnen will sich keine rechte Vertrautheit herstellen, klafft ein schier unüberbrückbarer Abgrund, den nicht allein die Zeit der langen Trennung geschaffen hat. Statt der ungeschmälerten Freude, nun endlich ihr Kind, den verlorenen Sohn bei sich zu haben, stehen ihr Kummer und Zweifel ins einstmals hübsche, nun von der Trunksucht schwer gezeichnete Gesicht geschrieben.
Den Jungen schwindelt, noch mehr chaotische Enthüllungen und betäubendes Geschwafel prasseln auf ihn ein. Das große Wort führt der vom Alkohol befeuerte Amberger, während das neben ihm sitzende Faktotum jede abgründige Anekdote aus dem Familienleben – jede unglaubliche, aus Niedertracht und Verlogenheit gestrickte Geschichte, die Cornelius besser nie gehört hätte – mit heftigem Kopfschütteln begleitet, gefolgt von empörten Ausrufen.
Früh ist die Nacht hereingebrochen, und die beschwipste, hungrig gewordene Gesellschaft bricht auf in ein auf der anderen Straßenseite gelegenes Wirtshaus, wo Ambergers wirre Erzählungen bei Wein, Schnaps und Bier fortgesetzt werden. Cornelius trinkt Cola und konzentriert sich auf die Botschaft der Musik, die aus der Jukebox dringt:
there must be a way out of here said the joker to the thief there is so much confusion i can get no relief
.
Zur Nacht bereitet ihm Bertha ein Lager auf der Wohnzimmercouch. Sie kümmert sich zwar um ihn, aber nicht mit der Wärme einer mütterlichen Liebe, nach der er sich so heiß gesehnt hat. Er spürt, dass er ihr im Grunde nicht geheuer ist und obendrein ungelegen kommt. Kann er ihr vertrauen? Lange liegt er wach und sinniert über den vergangenen Tag nach und den unbändigen Hass, der zwischen seiner Mutter und ihrer Halbschwester lodert. Er lauscht dem beruhigenden Brummen der auswärtigen Lastwagen, die auf der Hauptstraße zur Großmarkthalle fahren, und starrt wie hypnotisiert auf den durch einen Spalt der Vorhänge ins Zimmer tastenden Lichtstrahl der Straßenlampe, der einen hellen Fleck auf die gemusterte Tapete wirft. Er zählt die Tage seiner Freiheit, die er weit weg von seinem alten Zuhause verbracht hat, ist sich aber nicht ganz sicher, ob er in dem neuen wirklich willkommen ist.
Am Morgen fährt Cornelius mit dem Bahnbus in die Schule. In den Korridoren und Klassenzimmern kursiert eine schlimme Nachricht: Ein stiller Einzelgänger, der seit Tagen im Unterricht fehlte, ist leblos aufgefunden worden. Auf einem freien Feld im Osten der Stadt ist er auf einen Hochspannungsmast geklettert und hat mit dem Leben Schluss gemacht. Niedergedrückt macht sich Cornelius auf den ungewohnten Heimweg. Bertha öffnet ihm die Tür, verstellt ihm aber den Weg, als wolle sie ihm den Zutritt in die Wohnung verwehren. Sie wirkt aufgelöst, will anscheinend etwas sagen, ihre Lippen zittern, aber außer einem verlegenen Räuspern und Husten bringt sie keinen Ton hervor. Zögerlich, beinahe unwillig tritt sie schließlich beiseite und lässt ihn vorbei.
Drinnen erwarten ihn bereits seine Großeltern, die gekommen sind, ihn fortzuholen und heimzuführen. Cornelius begreift im selben Augenblick, dass seine Mutter ihn
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