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Waugh, Evelyn

Waugh, Evelyn

Titel: Waugh, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ausflug ins wirkliche Leben
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zu unterscheiden. Der Zugang zum Haus liegt jetzt eine halbe Meile weiter oben, wo ein Feldgatter einen Karrenweg absperrt, der von Kuhfladen verschmutzt ist.
    Doch das Herrenhaus selbst wurde zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, noch vergleichsweise gut instand gehalten – wenn man es nämlich mit Haus Ballingar oder Schloss Boycott oder Knode-Hall vergleicht. Natürlich konnte es [90] nicht mit Gordontown mithalten, wo die amerikanische Lady Gordon elektrisches Licht legen, eine Zentralheizung und einen Aufzug einbauen ließ, auch nicht mit Mock-House oder Newhill, die an sporttreibende Engländer verpachtet werden, und auch nicht mit Schloss Mockstock, denn Lord Mockstock hatte unter seinem Stand geheiratet. Über diese vier Herrenhäuser mit ihren sauber geharkten Kiesflächen, Badezimmern und Generatoren spottete und staunte die ganze Umgegend. Doch Fleacetown, im fairen Vergleich mit den tatsächlich noch irischen Herrenhäusern des Freistaates, war noch erstaunlich bewohnbar.
    Das Dach war intakt, und das Dach ist es, das den Unterschied zwischen einem zweit- und einem drittrangigen irischen Herrenhaus ausmacht. Wenn das Dach einmal hin ist, hat man Moos im Badezimmer, Farn auf der Treppe und Kühe in der Bibliothek, und nach wenigen Jahren schon muss man in den Milchkeller oder ins Pförtnerhäuschen ziehen. Aber solange der Ire noch, wörtlich gesprochen, ein Dach über dem Kopf hat, ist sein Haus noch seine Burg. Fleacetown hat zwar auch seine wunden Punkte, aber nach allgemeiner Ansicht konnte das Bleidach noch gut zwanzig Jahre aushalten und würde bestimmt die gegenwärtige Besitzerin überdauern.
    [91] Miss Annabel Rochfort-Doyle-Fleace, um einmal den vollen Namen zu nennen, mit dem sie in offiziellen Dokumenten erschien, wenn auch alle Leute sie nur als Bella Fleace kannten, war die Letzte ihrer Familie. Fleaces und Fleysers hatten seit der Zeit Strongbows (im zwölften Jahrhundert) in der Gegend um Ballingar gelebt, und Farmhäuser bezeichnen noch heute die Stelle, wo sie – zwei Jahrhunderte vor der Zuwanderung der Boycotts und Gordons und Mockstocks – ein Palisaden-Fort bewohnt hatten. Im Billardzimmer hing ein Stammbaum, den ein Genealoge aus dem neunzehnten Jahrhundert mit Wappenbildern verziert hatte und der zeigte, wie die ersten Vorfahren sich mit den ebenso alten Rochforts und den achtbaren, wenn auch jüngeren Doyles verehelicht hatten. Das jetzige Herrenhaus war in großem Stil in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts errichtet worden, damals, als die Familie zwar schon geschwächt, aber doch noch wohlhabend und einflussreich gewesen war. Es würde zu weit führen, wollte man die allmähliche Verarmung beschreiben. Jedenfalls war sie nicht die Folge großartiger Verschwendungssucht. Die Fleaces wurden ohne viel Aufhebens einfach immer ärmer – wie es mit den Familien geht, die keinerlei Anstrengungen dagegen [92] unternehmen. In der letzten Generation hatten sich auch Anzeichen von Verschrobenheit bemerkbar gemacht. Bella Fleaces Mutter – eine O’Hara von Newhill – hatte von ihrem Hochzeitstag bis zu ihrer Sterbestunde unter der Wahnidee gelitten, sie sei eine Negerin. Ihr Bruder, den Bella beerbt hatte, widmete sich der Ölmalerei; da sein Geist einzig um das Sujet »Mord« kreiste, hatte er bis zu seinem Tode Gemälde ungefähr aller historischen Vorfälle dieser Art, von Julius Cäsar bis zu General Wilson, angefertigt. Zur Zeit der »Unruhen« arbeitete er an einem Bild, das seine Ermordung darstellen sollte, und tatsächlich wurde ihm auf seinem eigenen Zufahrtsweg aufgelauert, und er wurde erschossen.
    Unter einem solchen Gemälde ihres Bruders – Abraham Lincoln in seiner Loge im Theater – saß Miss Bella eines fahlen Novembermorgens, als ihr der Gedanke kam, eine Weihnachtsgesellschaft zu geben. Es wäre unnötig, ihre Erscheinung erschöpfend zu beschreiben, und auch nur verwirrend, da sie mit ihrem Charakter beträchtlich im Widerspruch zu stehen schien. Miss Bella war über achtzig, sehr derangiert und sehr rotgesichtig; graustreifiges Haar war auf dem Hinterkopf zu einem zotteligen Knoten geschlungen; lose Strähnen hingen ihr um die Wangen; ihre Nase [93] sprang stark vor und war von blauen Äderchen überzogen; die blassblauen Augen waren leer und blickten irre; sie hatte ein munteres Lächeln und sprach mit stark irischer Färbung. Sie ging an einem Krückstock, da sie vor vielen Jahren lahm geschlagen wurde, als sich am Ende eines langen Tages mit der

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