Waugh, Evelyn
geschmiert.«
»Also, ich kann nur sagen, wenn er ein anständiger Kerl sein will, kann er auch einer sein. Ich [289] hab in den Ferien festgestellt, dass wir ziemlich viele gemeinsame Bekannte haben. Einmal war er auf dem Landsitz gleich neben unserm.«
»Darin kann ich noch nichts besonders Anständiges sehen.«
»Na ja, aber es verbindet irgendwie. Er hat mir erklärt, warum er O’Malley in den Schülerrat geholt hat. Er studiert nämlich den Menschen.«
»Wer? O’Malley?«
»Nein, Graves. Er sagt, das ist der einzige Grund, warum er Lehrer geworden ist.«
»Ich denke, er ist Lehrer geworden, weil man da so eine ruhige Kugel schiebt.«
»Keineswegs. Eigentlich wollte er ja sogar in den diplomatischen Dienst, genau wie ich.«
»Da wäre er kaum durchs Examen gekommen. Das hat’s nämlich in sich. Und Graves ist allenfalls mittelmäßig.«
»Das Examen ist ja bloß dazu da, Unerwünschte fernzuhalten.«
»Dann hätte es Graves ausgesiebt.«
»Er sagt, Lehrer ist der humanste Beruf der Welt. Spierpoint ist keine Wettkampfarena. Wir müssen damit schlussmachen, dass immer die Schwächsten unter die Räder kommen.«
»Hat Graves das gesagt?«
»Ja.«
[290] »Muss ich mir merken, falls es mal Ärger mit Peacock gibt. Was hat er noch gesagt?«
»Ach, wir haben auch über Leute geredet, und ihren Charakter. Würdest du sagen, dass O’Malley Haltung hat?«
»Du lieber Himmel, nein.«
»Genau das meint Graves auch. Er sagt, manche Leute haben sie von Natur aus, und die können auf sich selbst aufpassen. Anderen, wie O’Malley, muss man den Rücken stärken. Er meint, die Autorität wird O’Malley Haltung geben.«
»Also, bisher hat das offenbar noch nicht gewirkt«, sagte Charles, als O’Malley mit großen Schritten an ihren Betten vorbei in seine Ecke hastete.
»Willkommen bei der Schlafsaalaufsicht«, sagte Tamplin. »Sind wir alle zu spät? Wirst du uns melden?«
O’Malley sah auf seine Uhr. »Um es genau zu sagen, ihr habt noch sieben Minuten Zeit.«
»Nicht nach meiner Uhr.«
»Wir richten uns nach meiner.«
»Wirklich«, sagte Tamplin. »Ist deine Uhr auch in den Schülerrat berufen worden? Mir erscheint sie eher als ein billiges Ding.«
»Wenn ich amtlich spreche, verbitte ich mir Unverschämtheiten, Tamplin.«
[291] »Seine Uhr ist in den Schülerrat berufen worden. Ich höre zum ersten Mal, dass man zu einer Uhr unverschämt sein kann.«
Sie zogen sich aus und putzten sich die Zähne. O’Malley sah wiederholt auf die Uhr und sagte schließlich: »Sprecht euer Abendgebet.«
Jeder kniete neben seinem Bett nieder und drückte das Gesicht ins Bettzeug. Nach einer Minute richteten sich die Jungen in rascher Folge wieder auf und legten sich hin; nur Tamplin verharrte auf den Knien. O’Malley stand unschlüssig in der Mitte des Schlafsaals, die Hand an der Kette der Gaslampe. Es vergingen drei Minuten; nach allgemeiner Übereinkunft wurde nicht gesprochen, solange noch einer betete; einige Jungen begannen zu kichern. »Mach schneller«, sagte O’Malley.
Tamplin hob ein schmerzlich berührtes Gesicht. » Bitte, O’Malley. Ich spreche mein Abendgebet.«
»Du bist aber spät dran.«
Tamplin blieb auf den Knien und grub das Gesicht wieder ins Bettzeug. O’Malley zog an der Kette, und das Licht ging aus, bis auf den fahlen Schein der Stichflamme unter dem weiß emaillierten Schirm. Es war Sitte, dabei »Gute Nacht« zu sagen, aber Tamplin war noch immer [292] ostentativ im Gebet; in diesem Dilemma ging O’Malley steifen Schrittes und stumm zu seinem Bett.
»Willst du uns nicht gute Nacht sagen?«, fragte Charles.
»Gute Nacht.«
Ein Dutzend Stimmen nahmen wider alle Regel den Ruf auf: »Gute Nacht, O’Malley… Hoffentlich bleibt deine amtliche Uhr heute Nacht nicht stehen… Träum was Schönes, O’Malley.«
»Also wirklich«, sagte Wheatley, »hier betet noch einer.«
»Hört auf zu reden.«
»Bitte«, sagte Tamplin, noch immer auf den Knien. In dieser Haltung blieb er auch noch eine halbe Minute, dann erhob er sich und legte sich ins Bett.
»Hast du verstanden, Tamplin? Du bist zu spät.«
»Oh, das konnte ich aber, glaub ich, gar nicht sein, nicht mal nach deiner Uhr. Ich war bereit, als du gesagt hast: ›Sprecht euer Abendgebet.‹«
»Wenn du so lange beten willst, musst du eben früher anfangen.«
»Hätte ich das etwa gekonnt bei dem Krach, O’Malley? Bei all dem Gezeter über Uhren?«
»Wir reden morgen früh nochmals darüber.«
»Gute Nacht,
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