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Waugh, Evelyn

Waugh, Evelyn

Titel: Waugh, Evelyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ausflug ins wirkliche Leben
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O’Malley.«
    [293] In diesem Moment ging die Tür auf, und Anderson, der für alle Schlafsäle im Haus verantwortlich war, kam herein. »Was soll diese Schwätzerei hier?«, fragte er.
    Nun hatte O’Malley nicht die allermindeste Absicht gehabt, Tamplin wegen »Verspätung« zu verpetzen. Es war eine knifflige juristische Frage, über die man in Spierpoint endlose Diskussionen führen konnte, ob er unter den gegebenen Umständen ein Recht dazu gehabt hätte. Vielmehr hatte O’Malley vorgehabt, anderntags an Tamplins besseres Ich zu appellieren, ihm zu sagen, dass er auch einen Spaß verstehen könne, dass seine amtliche Funktion ihm zuwider sei und dass er nichts weniger wolle, als das Trimester damit zu beginnen, seine neue Autorität gegen die früheren Kameraden einzusetzen; das alles wollte er sagen und Tamplin bitten, sich »hinter ihn zu stellen«. Jetzt aber, so plötzlich aus der Dunkelheit angeherrscht, verlor er den Kopf und sagte: »Ich habe Tamplin wegen Verspätung ermahnt, Anderson.«
    »Gut, erinnere mich morgen früh daran, und mach jetzt um Himmels willen nicht so ein Geschrei darum.«
    »Bitte, Anderson, ich bin nicht der Meinung, dass ich zu spät war«, sagte Tamplin. »Ich habe nur etwas länger gebetet als die andern. Als er [294] gesagt hat, wir sollen jetzt beten, war ich vollkommen bereit.«
    »Aber er war noch nicht im Bett, als ich das Licht ausgemacht hab«, sagte O’Malley.
    »Na, es ist doch üblich, damit zu warten, bis alle fertig sind, oder?«
    »Ja, Anderson. Ich habe ungefähr fünf Minuten gewartet.«
    »Verstehe. Aber Verspätung zählt von dem Moment an, wo man zu beten anfängt, das weißt du. Lass die Sache lieber auf sich beruhen.«
    »Danke, Anderson«, sagte Tamplin.
    Anderson zündete die Kerze an, die in einer Keksdose auf dem Schränkchen neben seinem Bett stand. Er zog sich langsam aus, wusch sich und ging, ohne zu beten, ins Bett. Die Dose schirmte das Licht gegen den Schlafsaal ab und warf nur einen kleinen gelben Kegel über sein Buch und Kissen; das und der matte Schein der Gaslampe waren das einzige Licht im Saal. Allmählich wurden in der Dunkelheit die Spitzbogenfenster undeutlich sichtbar. Charles lag auf dem Rücken und dachte nach; O’Malleys erster Abend war ein Fiasko gewesen; von Anfang bis Ende hätte er seine Sache nicht schlechter machen können; Mr. Graves hatte ihn offenbar auf einen steinigen Weg zu Haltung und Selbstvertrauen [295] geschickt. Und während er allmählich schläfriger wurde, suchten Charles’ Gedanken wie eine Roulettekugel, wenn das Rad langsamer wird, einen Ruheplatz und verharrten schließlich bei jenem nie fernen Tag am Ende seines zweiten Trimesters; dem rauhen, windigen Tag, an dem die Unterstufe ihren Geländelauf absolvierte; bibbernd und halb umgezogen, mit einem flauen Gefühl im Magen ob der bevorstehenden Bewährungsprobe, war er zu Frank gerufen worden, war rasch in seine Kleider geschlüpft, Hals über Kopf die Turmtreppe hinuntergerannt und hatte mit einer neuen, größeren Angst an die Tür geklopft.
    »Charles, ich habe eben ein Telegramm von deinem Vater bekommen, das du lesen musst. Ich lasse dich damit allein.«
    Er hatte keine Träne vergossen, nicht da und nicht später; er erinnerte sich nicht mehr, was gesagt worden war, als Frank zwei Minuten später wieder hereinkam; im Herzen seines Kummers lag ein tauber, ein betäubter Fleck; weit besser erinnerte er sich an den weiteren Tagesablauf. Statt mitzulaufen, hatte er im Mantel neben Frank das Ende des Laufs mit angesehen; die Nachricht hatte sich im Haus verbreitet, und es wurden keine Fragen gestellt; er hatte bei der Hausmutter Tee getrunken und den Abend bei ihr verbracht [296] und die Nacht im Privathaus des Direktors geschlafen; am nächsten Morgen war Tante Philippa gekommen und hatte ihn nach Hause geholt. Er erinnerte sich an alles, was um ihn herum vorgegangen war, was er sah und hörte und roch, so dass ihn nach seiner Rückkehr alles an diesem Ort an seinen Verlust erinnerte, an die jähe Durchtrennung aller Kindheitsbande, und ihm war, als ob seine Mutter nicht im bosnischen Hochland, sondern hier in Spierpoint, auf der Turmtreppe, im unbeleuchteten Gang zur Abstellkammer, in den windigen Bogengängen gefallen wäre, und als hätte nicht eine deutsche Granate sie getötet, sondern der schrille Ruf, der durch den Umkleideraum gehallt war: »Ryder hier? Ryder? Frank will ihn sprechen, dalli!«
    II
    »Donnerstag, 25. September 1919. Peacock fing

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