Way Out
Höchstgeschwindigkeit. Neunzig Meter, vier Ecken, ungefähr dreißig Sekunden. Ein Olympiateilnehmer hätte das in zehn geschafft, aber ein Olympiateilnehmer brauchte an der Ziellinie keine ruhige Hand, um treffsicher mit einer Maschinenpistole umgehen zu können.
Er nahm die letzte Ecke. Folgte der Vorderfront bis zum Tor, Mund geschlossen, schwer durch die Nase atmend.
Jetzt war er rechts vom Torflügel.
Stille in der Scheune. Keine Bewegung. Reacher stellte sich breitbeinig hin und lehnte seine linke Schulter an die Wand, den Ellbogen angelegt, sein Handgelenk locker, seine Linke am vorderen Griff der MP5, leicht, nicht verkrampft. Die rechte Hand umfasste den Pistolengriff, und sein Zeigefinger nahm schon Druckpunkt am Abzug. Sein linkes Auge war zugekniffen, sein rechtes visierte bereits über Kimme und Korn. Er wartete. Hörte leise Schritte auf dem Betonboden, eineinviertel Meter vor und einen Meter links von sich. Sah einen Schatten in der aus der Scheune dringenden Lichtflut. Wartete. Sah dann Lanes Hinterkopf, nur eine schmale Sichel, als der andere den Kopf ins Freie streckte und nach links ins Dunkel spähte. Sah seine rechte Schulter. Sah den Nylontragegurt seiner MP5 tief ins Material seiner Bomberjacke einschneiden. Reacher schwenkte seine Waffe nicht. Er wollte parallel zur Scheune schießen, nicht in sie hinein. Ein Schwenk seiner Maschinenpistole hätte Geiseln in die Schusslinie gebracht. Vor allem Taylor, wenn er das Bild in dem Schildpattspiegel richtig in Erinnerung hatte. Vielleicht auch Jackson. Er musste Geduld haben. Er musste warten, bis Lane zu ihm kam.
Und Lane kam zu ihm. Er schob sich ins Freie, kehrte Reacher weiter den Rücken zu, spähte nach links, beugte sich mit abgeknicktem Oberkörper nach vorn, schaute in die falsche Richtung. Er bewegte den vorderen Fuß. Schob sich etwas weiter heraus. Reacher beachtete ihn nicht. Konzentrierte sich nur auf Kimme und Korn der MP5. Sie waren mit Tritium markiert und ergaben eine Geometrie, die für ihn so real war, als durchdränge ein Laserstrahl die Nacht. Lane schob sich hinein. Erst die rechte Kante seines Schädels. Dann eine größere Sichel. Und noch mehr. Dann noch mehr. Dann bedeckte die Kimme den Knochenwulst an seinem Hinterkopf. Genau mittig. Lane war ihm so nahe, dass Reacher jedes Haar seines Bürstenhaarschnitts erkennen konnte.
Eine halbe Sekunde lang überlegte er, ob er Lanes Namen rufen solle. Ihm befehlen, sich mit erhobenen Händen umzudrehen. Ihm sagen, warum er jetzt sterben musste. Seine vielen Verbrechen aufzählen. Sozusagen als Ersatz für eine Gerichtsverhandlung.
Dann dachte er an einen Zweikampf. Mann gegen Mann. Mit Messern oder Fäusten. Ein Entscheidungskampf. Etwas Zeremonielles, das vielleicht auch fairer war.
Dann dachte er an Hobart und betätigte den Abzug.
Ein merkwürdig verschwommenes Surren wie von einer Nähmaschine oder einem an einer weit entfernten Ampel wartenden Motorrad. Eine Fünftelsekunde, drei Neunmillimetergeschosse, drei Patronenhülsen, die ausgeworfen wurden und in hohem Bogen durchs helle Licht flogen und fünf, sechs Meter rechts von Reacher klirrend auf dem festgewalzten Boden landeten. Lanes Kopf explodierte in einer Nebelwolke, die im Xenonlicht bläulich wirkte. Er flog nach hinten und folgte dem Rest seines Körpers senkrecht nach unten. Der nur durch Baumwolle und Nylon gedämpfte dumpfe Aufprall von Fleisch und Knochen auf Beton war deutlich zu hören.
Hoffentlich hat Jade das nicht gesehen, dachte Reacher.
Dann trat er durchs Tor. Gregory steckte in einer fatalen Unschlüssigkeit, auch wenn sie nur Bruchteile einer Sekunde dauerte. Er war zurückgewichen und blickte nach links, aber die tödlichen Schüsse auf Lane waren von rechts gekommen. Das war unbegreiflich. Sein Gehirn streikte.
»Erschießen Sie ihn«, sagte Jackson.
Reacher machte keine Bewegung.
»Erschießen Sie ihn«, wiederholte Jackson. »Ich will Ihnen nicht erzählen müssen, wofür die Platte hätte dienen sollen.«
Reacher riskierte einen Blick zu Taylor. Taylor nickte. Reacher sah kurz zu Pauling. Auch sie nickte. Also jagte er Gregory drei Kugeln mitten in die Brust.
77
Die Aufräumarbeiten dauerten den Rest der Nacht und fast den ganzen folgenden Tag. Obwohl sie alle völlig erschöpft waren, herrschte stillschweigend Einigkeit darüber, dass sie jetzt nicht schlafen durften. Außer natürlich Jade. Kate brachte sie ins Bett und blieb bei ihr sitzen, während sie schlief. Die Kleine war
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