Way Out
bekam. Kate Lane war mehr ein Kind der achtziger oder neunziger Jahre. Vielschichtiger, lebenstüchtiger, selbstbewusster.
»Keine Kinder mit Anne, stimmt’s?«, fragte Reacher.
»Nein«, sagte Burke. »Gott sei Dank.«
Also war der Unterschied vielleicht durch Mutterschaft bedingt. Auf Kate schien ein Gewicht, ein Ernst, eine Schwere zu lasten, nicht körperlich, aber irgendwo tief in ihrem Inneren. Hätte man sich eine für eine Nacht aussuchen dürfen, hätte man sich wahrscheinlich für Anne entschieden. Um eine Woche mit einer zu verbringen, hätte man vielleicht eher Kate gewählt.
Lane schleppte mühsam eine prallgefüllte lederne Reisetasche herein. Er ließ sie zu Boden fallen und setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Wie lange noch?«, fragte er.
»Vierzig Minuten«, antwortete Reacher.
Burke sah auf seine Armbanduhr.
»Ja«, sagte er. »Vierzig Minuten.«
»Wartet nebenan«, sagte Lane. »Lasst mich allein.«
Burke wollte nach der Reisetasche greifen, aber Reacher kam ihm zuvor. Sie war breit und schwer, für einen großen Mann leichter zu bewältigen. Er trug sie in den Eingangsbereich hinaus und stellte sie an der Tür ab, wo ihre Vorgängerin zwölf Stunden zuvor gewartet hatte. Sie plumpste auf den Boden und blieb wie ein zweiter Tierkadaver liegen. Reacher ließ sich in einen Sessel fallen und begann, die Minuten mitzuzählen. Burke ging auf und ab. Carter Groom trommelte frustriert mit den Fingern auf seiner Sessellehne. Der Recon Marine, gestrandet. Ich kenne nur meinen Dienst, hatte er gesagt. Bin ich nicht im Einsatz, bin ich nichts . Gregory saß unbeweglich neben ihm, ganz britisch reserviert. Neben ihm Perez, der Latino, winzig. Bestimmt hat er ein Messer, dachte Reacher. Dann Kowalski, größer als die anderen, aber trotzdem klein im Vergleich zu Reacher. Special-Forces-Männer waren meistens klein, gewöhnlich schlank, flink und drahtig. Für Ausdauer und Durchhaltevermögen geschaffen, listenreich und voller Finten. Wie Füchse, nicht wie Bären.
Niemand sprach. Es hätte auch kein Thema außer der Tatsache gegeben, dass das Ende einer Entführung stets der riskanteste Teil war. Was konnte Entführer dazu bewegen, Wort zu halten? Ehrgefühl? Ein gewisses Berufsethos? Wozu einen gefährlichen Austausch riskieren, wenn eine Kugel in den Kopf des Opfers und ein flaches Grab so viel einfacher und sicherer waren? Menschlichkeit? Anstand? Reacher sah zu Kate Lanes Porträt neben dem Telefon und spürte, dass ihm ein leichter Schauder über den Rücken lief. Sie war dem Tod jetzt näher als irgendwann in den letzten drei Tagen, das wusste er. Vermutlich wussten sie das alle.
»Zeit«, sagte Burke. »Ich muss los.«
»Ich trage Ihnen die Tasche«, meinte Reacher. »Wenigstens bis runter zum Wagen.«
Sie fuhren mit dem Aufzug hinunter. In der Eingangshalle fegte eine kleine schwarzhaarige Frau, von großen Männern in Anzügen – Mitarbeiter, Assistenten oder Leibwächter – umgeben, an ihnen vorbei.
»War das Yoko?«, erkundigte sich Reacher.
Aber Burke gab keine Antwort. Er ging nur an dem Portier vorbei und auf den Gehsteig hinaus. Dort stand der schwarze BMW bereit. Burke öffnete die hintere Tür.
»Stellen Sie die Tasche auf den Rücksitz«, sagte er. »Von einem Sitz zum anderen geht’s dann leichter.«
»Ich komme mit«, meinte Reacher.
»Das wäre blöd, Mann.«
»Ich liege zwischen den Sitzen auf dem Boden. Dort sieht mich niemand.«
»Aber wozu?«
»Wir müssen endlich was tun . Sie wissen so gut wie ich, dass es in dieser Story keine sentimentale Szene wie am Checkpoint Charlie geben wird. Sie wird nicht aus den Nebelschwaden auf uns zugewankt kommen – tapfer lächelnd, mit Jade an der Hand. Das wird nicht passieren. Deshalb müssen wir irgendwann aktiv werden.«
»Was haben Sie vor?«
»Wenn Sie die Tasche umgeladen haben, steige ich hinter der nächsten Ecke aus, gehe zurück und sehe, was zu sehen ist.«
»Wer sagt, dass Sie irgendwas sehen werden?«
»Die Kerle haben viereinhalb Millionen Bucks in einem unversperrten Wagen liegen. Bestimmt lassen sie das Geld nicht sehr lange dort. Folglich werde ich etwas sehen.«
»Nützt uns das?«
»Sehr viel mehr, als untätig oben herumzuhocken uns nützen kann.«
»Lane bringt mich um.«
»Er braucht nichts davon zu erfahren. Ich komme erst lange nach Ihnen zurück. Sie sagen, dass Sie keine Ahnung haben, wo ich abgeblieben bin. Ich sage, dass ich einen Spaziergang gemacht habe.«
»Lane bringt Sie um, wenn
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