Waylander der Graue
doch er griff hinauf, fand einen Halt für seine Finger und begann langsam zu klettern. Hätte er sich nicht so zerschlagen und müde gefühlt, wäre es ihm ein Leichtes gewesen. So stöhnte er jedoch, als er sich über die vorspringende Felsnase zog.
»Hier rauf!«, rief er und winkte Kysumu, ihm zu folgen.
Der kleine Rajnee erklomm geschickt die Felswand. Ein großer Steinblock von gut zwei Metern Höhe und knapp anderthalb Metern Breite war aufrecht in den Hang eingelassen.
»Sieht aus wie eine Tür«, sagte Kysumu und stieß dagegen. Der Fels rührte sich nicht.
Yu Yu antwortete nicht. Er sah starr zum Waldrand hin, wo sechs Krieger erschienen waren.
Auch Kysumu sah sie. »Wenigstens haben sie keine Bögen«, murmelte er. »Vielleicht kann ich sie töten, während sie klettern.«
Yu Yu trat auf die Felstür zu und streckte die Hand aus. Als seine Finger den Stein berührten, schimmerte sie wie ein Kiesel, der in einen Teich fällt. Kleine Wellen breiteten sich aus. Yu Yu starrte einen Augenblick auf diese Wellen, dann streckte er die Hand aus. Seine Hand glitt durch die Tür wie durch einen kalten Nebel. Er winkte Kysumu, der die heranrückenden Kriaznor beobachtete. »Ich habe den Weg hinein gefunden«, sagte er und deutete auf den kalten Stein.
»Was redest du da?«
Yu Yu drehte sich um und sah, dass der Eingang wieder massiver Fels war.
»Nimm meine Hand«, sagte Yu Yu.
»Jetzt haben wir euch, kleine Männer!«, rief ein Kriaznor, rannte los und kletterte zu ihnen hinauf. Kysumu ließ sein Schwert durch die Luft sausen.
Yu Yu berührte wieder den Stein, und als die Wellen einsetzten, packte er Kysumus Arm und zerrte ihn mit sich durch den Nebel.
Auf der anderen Seite standen sie in pechschwarzer Finsternis.
»Oh, wunderbar!«, sagte Yu Yu. »Was jetzt?«
Sofort flammten zahlreiche Laternen auf. Kysumu kniff die Augen vor dem plötzlichen grellen Licht zusammen. Als sich seine Augen daran gewöhnt hatten, sah er, dass sie in einem kurzen Tunnel standen, der zu einem großen Kuppelsaal führte. Kysumu ließ Yu Yus Hand los und ging zum Ende des Tunnels. In dem Saal standen in Reih und Glied mehrere Hundert blendend weißer, lebensgroßer Tonfiguren. Jede der Figuren stellte einen Riaj-nor -Schwertkämpfer dar. Sie waren herrlich gearbeitet. Vor der ersten Reihe der schweigenden Armee lagen drei der Figuren zerbrochen am Boden. Ein Stück aus der Felsendecke war heruntergestürzt und hatte sie zerschmettert. Kysumu nahm ein abgebrochenes Stück eines Kopfes in die Hand und betrachtete es. Er hatte noch nie so gute handwerkliche Arbeit gesehen. Er legte das Stück ehrfürchtig wieder hin, ging durch die geisterhaften Reihen und betrachtete die Gesichter. So viel Edelmut. So viel Menschlichkeit. Kysumu war von Ehrfurcht erfüllt. Er hatte das Gefühl, dass in jedem Gesicht Bescheidenheit und Heldenhaftigkeit zu lesen waren. Dies hier waren die Großen, die für die Menschheit gegen ein ungeheures Übel gekämpft hatten. Kysumu schwoll das Herz. Er fühlte sich ungeheuer bevorzugt, dass er diese Gesichter auch nur betrachten durfte.
Yu Yu setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen.
Nach einer Weile ging Kysumu zurück und setzte sich neben ihn. »Was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Du tust, was du willst«, antwortete Yu Yu. »Ich muss mich ausruhen.« Er streckte sich aus, bettete den Kopf auf seinen Arm und schlief ein.
Kysumu stand auf. Er konnte die Augen nicht von den ernsten Gesichtern der Männer aus Ton wenden. Jedes Gesicht war anders, doch jede Figur trug die gleiche Rüstung: ein verzierter Helm mit einem Nackenschutz, ein Panzer für den Rumpf, der aus Münzen gemacht schien, vollkommen rund und durch kleine Ringe miteinander verbunden, eine knöchellange Tunika, die vorne und hinten bis zur Taille geschlitzt war. Die Schwerter waren wie sein eigenes, lang und leicht gekrümmt. Kysumu schlenderte durch die Reihen und überlegte, wer von ihnen Qin Chong war.
Die Laternen brannten hell. Kysumu untersuchte eine und sah, dass sie weder Öl noch einen anderen Brennstoff enthielt. Eine Glaskugel ruhte auf einem kleinen Becher, aus dessen Mitte weißes Licht strahlte.
Langsam wanderte er durch den kuppelförmigen Saal. Auf einer Seite fand er Hunderte kleiner goldener Gegenstände, die auf einem breiten Felssims lagen. Es waren Ringe, Broschen oder Armreifen, die alle auf einem Haufen lagen. Anhänger, Schmuckstücke und winzige Glücksbringer in Form von
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