Weg des Zorns 02 - Der Zorn der Gerechten
alles hatte aufgehört, lustig zu sein, als ihr bewusst wurde, was hier tatsächlich mit ihrer Trauer und ihrem Hass geschah.
Sie waren immer noch dort. Dank Tisiphones Schutzwällen fühlte Alicia sie nicht mehr, doch sie spürte sehr wohl, dass sie noch dort waren - und Alicia hatte sich ihnen nie gestellt. Sie konnte sich damit nicht auseinandersetzen, denn sie konnte sie nicht erreichen, und das hinterließ tief in ihrem Innersten ein sonderbares, gefährlich ungeklärtes Vakuum. Schlimmer noch, Alicia wusste genau, was Tisiphone mit diesen nackten, ungefilterten Emotionen anstellte.
Die Furie hatte keinerlei Interesse daran, sie in irgendeiner Weise zu zerstreuen, denn sie kannte nur eine Form der Katharsis. Zunächst hatte Alicia vermutet, sie absorbiere diese Emotionen, so als dienten sie der Furie in gewisser Weise als Nahrung, doch dann war ihr ein deutlich schlimmerer Verdacht gekommen, und die Furie hatte ihn nicht bestritten.
Sie bewahrte diese Emotionen auf. Sie lagerte sie regelrecht ein. Sie destillierte daraus die reine Essenz des Hasses, hob sie für irgendeinen Moment in der Zukunft auf, an dem sie diese Emotionen vielleicht noch einmal brauchen würde. Das machte Alicia Angst. Wer zu den Springereinheiten gehörte, gab sich nur selten Selbsttäuschungen hin - das konnte man sich schlichtweg nicht leisten -, und Alicia wusste sehr wohl auch über die dunkle Seite ihrer Seele Bescheid. An Wadislaw Watts hatte sie diese dunkle Seite ihrer selbst schon deutlich unter Beweis gestellt und bedauerte es nicht im Mindesten. Und auch während einiger Gefechte hatte es Zeiten gegeben, da dieser Teil von ihrem Selbst, der unnachgiebige Killer, unkontrollierbar auszubrechen gedroht hatte. Es war niemals geschehen, denn der Rest ihrer Persönlichkeit, den ihre Eltern ihr mitgegeben und durch ihre Erziehung geformt hatten, war noch stärker. Doch mehr als einmal war es schon knapp geworden, und im Kampf musste man einen klaren Kopf behalten, oder man starb - und riss dabei vermutlich noch andere mit in den Tod.
Der Gedanke daran, was ein plötzliches Freisetzen all dieses angestauten Hasses wohl für sie bedeuten würde, erschreckte sie zutiefst, doch Tisiphone weigerte sich, darüber auch nur zu sprechen, sooft Alicia auch darum gebeten, fast schon gefleht hatte. Schließlich hatte Alicia um ihrer Selbstachtung willen damit aufgehört, die Furie darauf anzusprechen. Angesichts von Tisiphones Weigerung war sie gänzlich hilflos ... und Tisiphone hatte sie daran erinnert - nicht voller Grausamkeit, sondern beinahe schon zärtlich -, dass sie sich bereiterklärt hatte, für ihre Rache ›alles‹ zu geben. Das war eindeutig die Wahrheit gewesen, damals ebenso wie jetzt, und die Tatsache, dass Alicia zu diesem Zeitpunkt glaubte, den Verstand verloren zu haben, änderte daran nicht das Geringste. Sie hatte ihr Wort gegeben, und ebenso wie bei Onkel Arthur galt auch für sie selbst: So ist es, so bleibt es.
Doch jetzt war ein neues, verstörendes Element hinzugekommen, denn Tisiphone führte zweifellos irgendetwas im Schilde. In der lautlosen Stimme der Furie schwang eindeutig so etwas wie Befriedigung mit - und das verstand Alicia nicht im Mindesten, schließlich hatten sie bislang noch nicht das Geringste erreicht. Alicia war erstaunt, dass die ungestüme, stets getriebene Furie nicht schon vor langer Zeit darauf bestanden hatte, endlich die Flucht anzutreten. Zweifellos hatte sie mittlerweile immense Mengen an Informationen zusammengetragen - einschließlich allem, was Colonel McIlhenny und sogar Ben Belkassem über die Piraten wussten -, aber es musste da noch irgendetwas anderes geben ...
»Dem ist tatsächlich so, kleines Menschenkind.« Die Bemerkung kam so plötzlich, dass Alicia erstaunt zusammenzuckte, und Tisiphone lachte leise. » Inzwischen hat sich genau das ereignet, worauf ich gewartet habe, und für uns ist jetzt die Zeit gekommen aufzubrechen.«
»Ist das dein Ernst?!« Ruckartig richtete sich Alicia in ihrem Bett auf, dann keuchte sie, als Tisiphone ihr diese Frage beantwortete - wortlos. Spontan aktivierten sich Alicias Implantate, und zum ersten Mal seit mehr als zwei Monaten nahm sie ihre Umgebung wieder mit vollständiger Sinnesschärfe wahr - auch ihre Sensorik-Booster arbeiteten wieder. Erneut zuckte sie zusammen, als Tisiphone nun auch ihr Pharmaskop aktivierte. Sie spürte die Anspannung, als aus dem ›Ticker‹-Vorrat eine sorgfältig dosierte Menge in ihren Blutkreislauf geschleust
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