Weg mit den Pillen
die Aktivität der Gene beeinflusst, die das unendlich komplizierte Netzwerk steuern, das am Schluss – ganz am Ende – zu den spürbaren Problemen führt.
Wir sehen an diesem Beispiel: Das mechanische Bild vom Menschen hat durchaus seine Berechtigung und seinen Platz. Nämlich dort, wo es um das Verständnis vieler Einzelkomponenten und die Aufklärung der Zusammenhänge geht, mit Sicherheit aber auch in der Notfallmedizin und im akuten Fall. Doch das Bild ist ein Hemmschuh, wenn es um die kreative Umsetzung dieses Wissens geht. Denn dann muss man sein Denken ein wenig umstellen. Man muss von einem detailliert-analytischen Denken, das in alle einzelnen Verästelungen vordringt, zu einem ganzheitlich-zusammenschauenden Denken, zur Gestaltsicht, gelangen. Es ist ein bisschen so, wie wenn man eine Stadt, die man zuvor am Boden erkundet hat, von oben, von einem Turm aus sieht. Plötzlich sieht man ganz neue Zusammenhänge und Strukturen. Plötzlich erkennt man, wie Straßenzüge zusammengehören, Viertel verknüpft sind und wie auch neue Wege sich erschließen, die man vorher nicht sah.
Das ist nicht das Gegenteil von detaillierter Analyse, sondern die Ergänzung dazu. Ohne die ganzheitliche Zusammenschau zerrinnen uns die analytischen Details in einen Sand- oder gar Scherbenhaufen aus zusammenhangslosen Fakten.
Fragen Sie einmal Ihren Hausarzt, ob man eine vollumfänglich diagnostizierte und eigentlich operationspflichtige koronare Herzkrankheit wieder zurückführen kann in einen gesunden Ausgangszustand. Ich mache folgende Wette. Die meisten werden sagen: »Das geht nicht. Da kann man nur damit leben oder operativ eingreifen. Wir können höchstens mit ein paar Medikamenten darauf hinarbeiten, dass es nicht noch schlimmer wird.« Die meisten werden das sagen, obwohl es eigentlich sehr gute Erkenntnisse dazu gibt, dass man mit der Veränderung seines Lebensstils (so wie oben
kurz skizziert) die Krankheitszeichen der koronaren Herzkrankheit nicht nur zum Stillstand, sondern zur Rückbildung führen kann. Einfach indem man sich und sein Verhalten ändert. Ohne Medikamente. Ohne Operation. Überhaupt eigentlich ohne Doktor.
Warum beachtet niemand solche Befunde? Warum sind wir als Gesellschaft so blind? Warum ist unsere moderne Medizin, obwohl sie so hoch entwickelt ist, obwohl wir so viel wissen, so verschlossen gegenüber diesen neueren, komplexen Therapieverfahren? Oder liegt es vielleicht gerade daran, dass wir so viel Detailwissen haben? Meine Vermutung ist, dass es die Leitfigur des Körpers als Maschine ist – die Grundmetapher oder das Paradigma, mit dem die moderne Medizin und die ganze Biowissenschaft arbeiten –, die den Blick verstellt. Warum? In einer Maschine, in einem Auto etwa, ist es klar: Wenn etwas kaputt ist, dann muss man die Ursache finden, eine, vielleicht zwei oder drei, aber dann hat man sie, behebt sie, fertig. Die Maschine geht wieder. Dass das Auto selbst, als Ganzes, sich dumm verhält, das ist eine alberne Idee. Das Auto verhält sich nicht, es geht höchstens kaputt und verschleißt. Deswegen gibt es in einem Maschinenparadigma auch kein Konzept dafür, dass sich aus dem komplexen Zusammenwirken vieler Teile eine Störung als Gesamteigenschaft des Systems ergeben könnte – etwas Neues, das es vorher noch nicht gab. Und umgekehrt ist es auch nicht sinnvoll zu sagen, das kaputte Auto könne von sich aus etwas tun, um die Störung zu beheben. Es müsse nur seinen Selbstreparaturmechanismus anwerfen und sich wieder reparieren.
Eine Maschine hat keine eigene Initiative, keine eigene Aktivität, kein selbstständig kontrolliertes und kontrollierbares Verhalten. Sie hat nichts, was sie ändern müsste oder was sich ändern ließe, es sei denn von außen. Daher ist die einzig sinnvolle Art über die Reparatur einer Maschine nachzudenken diejenige, zu überlegen, was kaputt ist: den Mechanismus zu ersetzen, den Fehler zu beheben, die Fremdeinwirkung zu unterbinden. Also ist ein solches Vorgehen auch im Krankheitsfall richtig – das ist einfach, einleuchtend und absolut zwingend, so lange man den Organismus als Maschine betrachtet
bzw. wenn der Organismus wirklich eine Maschine wäre. Haben Sie diese entscheidende Stelle bemerkt? Genau hier kommt die vorher angesprochene Verwechslung von Bild und Wirklichkeit zum Tragen. Wir übersehen, wann eine solche Betrachtung sinnvoll ist und wann nicht. Wir tun so, als wäre eine Maschinenbetrachtung immer sinnvoll – auch, wenn es um sehr
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