Weg mit den Pillen
komplexe Probleme geht. Damit stoßen wir an Grenzen.
Es gibt aber noch einen anderen wichtigen Grund, weswegen der normale Kardiologe oder Hausarzt Helmut vermutlich nicht hätte sagen können, dass eine Lebensstilveränderung eigentlich wirksamer zur Behandlung seiner Krankheit gewesen wäre als alle Medikamente und Operationen zusammen (und noch dazu mit weniger Risiken behaftet und um einiges billiger für die Versichertengemeinschaft). An einer Lebensstiländerung verdient nämlich niemand Geld. Der Arzt nicht, der die Empfehlung ausgibt und vielleicht einen Leitfaden aushändigt. Die Pharmaindustrie nicht, die all ihre Medikamente, die für solche Fälle entwickelt wurden, nicht verkaufen kann. Der Operateur und das Krankenhaus nicht, denen die fünf- bis sechsstellige Summe entgeht, die für eine solche Behandlung fällig wird. Die Einzigen, die dabei verdient hätten, wären ein paar Bioläden und -bauern, die möglicherweise einen Kunden mehr bekommen hätten, die Buchläden und der Verlag, die das Büchlein mit den passenden Ratschlägen vertreiben, und vielleicht ein Seminarleiter, der die entsprechenden Kurse begleitet hätte. Wer auch verdient hätte, wäre Helmuts Arbeitgeber bzw. Krankenkasse. Diese hätten nicht die Kosten der Krankheitstage tragen müssen. Denn eine Lebensstilveränderung lässt sich leicht ambulant umsetzen.
Das Maschinenparadigma vom Menschen hat seine Profiteure, und der Profit im Gesundheitswesen ist eng daran gekoppelt, dass alle an die Gültigkeit, ja an die Wirklichkeit des Maschinenparadigmas glauben. Denn sie ist der Garant dafür, dass alle verdienen. Das Krankheitssystem in Deutschland ist, nimmt man auch die Pharmabranche hinzu, der größte Wirtschaftszweig überhaupt. Die Krankenhäuser und die daran gekoppelten Unternehmen sind für
die Wirtschaftskraft unseres Landes sicherlich wichtiger als die Autoindustrie. Wer wollte diese Einkommensquelle leichtfertig aufs Spiel setzen?
Wo Wirtschaftsinteressen mächtig sind, ist Widerstand gegen Veränderung riesig. Im Zweifelsfall wird angegriffen. Daher mache ich mir keine Illusionen, dass die Veränderung, die Erweiterung unseres Denkens und unserer Kultur, die ich für nötig halte, leicht, rasch und friedvoll kommen wird. Wir haben aber, so meine ich, nicht viele Alternativen, als auf eine solche Veränderung hinzuarbeiten. Denn unser System, das wissen wir, ist unbeherrschbar.
Inwiefern aber hängt unser Denkmodell mit den Strukturen zusammen, die so problematisch sind? Dies ist relativ leicht zu sehen. Die Vorstellung vom Mensch als Maschine, vom Organismus als Apparat, hat eine bestimmte Form von Forschung entstehen lassen, die nach den Ursachen der Erkrankung sucht. Diese Art von Forschung hat einen bestimmten Typ von Behandlung im Auge, nämlich die kausale Behandlung der vermeintlichen Ursache, oder dessen, was man dafür hält, oder auch dessen, was man für eine direkte Auswirkung der vermeintlichen Ursache hält. Die klinische Pharmakologie ist ein Kind dieser Entwicklung. Sie hat mit dem hehren Ziel, medikamentöse Behandlungsmethoden zu entwickeln und bereitzustellen, mittlerweile einen hohen Stellenwert. Aus dieser Entwicklung sind mächtige Pharmaunternehmen entstanden. Diese Unternehmen stellen uns enorm wichtige Präparate zur Verfügung. Wer würde etwa ohne die modernen Insuline auskommen wollen, ohne die Diabetiker keine langen Überlebenschancen und noch höhere Krankheitsrisiken hätten? Wer würde die modernen Antibiotika missen wollen, die maßgeblich an der Eindämmung von Infektionen beteiligt waren? Es wäre absolut töricht, die Entwicklung der Pharmakologie als Ganzes zu verteufeln, »den Fortschritt« anzuklagen oder dergleichen.
Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die gesellschaftlichen Strukturen dazu geführt haben, dass nicht nur Unternehmen entstanden sind, die das Wohl der Menschheit im Auge haben, sondern Entitäten, die einen Überlebenskampf führen. Sie wollen
wachsen, sie wollen Platz und Macht, ein bisschen so wie die Cyborgs und Golems der phantastischen Literatur. Wir haben Wesen geschaffen, deren Eigendynamik wir nicht mehr beherrschen. Wie ist das gemeint?
Die Pharmabranche entwickelt viele neue Medikamente. Für jedes Medikament, das auf den Markt kommt, sind vielleicht 20 oder mehr im Entwicklungsprozess untergegangen. Sie haben es nicht geschafft, weil sich die ursprüngliche Hoffnung nicht bewahrheitet hat, weil die Daten von Tiermodellen nicht auf
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