Weg mit den Pillen
ein Gespür dafür bekommen, dass es so etwas gibt wie das uns Gemäße , um mit Platon zu sprechen. Und wichtig ist es auch zu verstehen, dass unsere Vergangenheit, unsere Ausbildung, der gesellschaftliche und historische Kontext, in dem wir gerade stehen, nicht immer dazu angetan ist, dieses uns Gemäße zum Ausdruck zu bringen. Wir müssen uns manchmal gegen Widerstände durchsetzen, um zu ihm zu gelangen. Oftmals spüren wir es, getrauen uns aber nicht, danach zu leben. Manchmal tritt es uns in Wünschen, Fantasien und Träumen entgegen – aber wir setzen es nicht um, weil es Einschnitte in unser Leben bedeuten würde, Entscheidungen, die schmerzhaft sind, oder weil wir mit lieb gewordenen Gewohnheiten brechen müssten. Wenn wir konsequent gegen unsere innere Natur leben, dann ist manchmal eine Krankheit unausweichlich. Der Philosoph Rudolf Steiner (1861 – 1925) hat einmal gesagt: »Wenn der Mensch nicht mehr weiterweiß, schicken die Götter eine Krankheit.« Damit ist genau dieser Zusammenhang gemeint: Krankheit kann manchmal die einzige Chance sein, ein Leben zum Stehen und auf den rechten Weg zu bringen, das sich auf einem fatalen Abweg befindet. Und Heilung besteht darin, diesen Abweg zu verlassen und auf seinen eigentlichen Weg zurückzukehren.
Ein Leiter einer Krebs-Rehabilitationsklinik hat mir einmal eine Geschichte von einem jungen Krebspatienten erzählt. Bei ihm wurde eine sehr aggressive Krebserkrankung diagnostiziert und man schickte ihn nach Hause, weil man nichts mehr für ihn tun könne. Man gab ihm noch maximal ein halbes Jahr, eher ein Vierteljahr. Man stelle sich vor: Ein junger Mensch, mitten im Leben, erhält eine solche Diagnose und damit sein Todesurteil. Normalerweise wäre das ja ein Grund zum Verzweifeln und Grübeln. Nun, dieser junge Mann tat etwas sehr Ungewöhnliches. Er tat das, was er immer schon tun wollte und offenbar aus mancherlei Gründen nicht getan hatte: Er kaufte sich ein Mountainbike und radelte quer über die Alpen. Als er zurückkam, war der Krebs weg.
Diese Geschichte illustriert, was ich sagen will: Wenn wir Krankheit als ein Zeichen nehmen, dass wir in unserem Leben etwas anders machen müssen, und uns dann auf den Weg machen, dieses Neue und Andere zu suchen, dann kehren wir zurück zu uns selbst und setzen der Entfremdung ein Ende. »Mache der Unterdrückung in Dir ein Ende!« 110 lautet ein sehr schönes Wort des Propheten Jesaja, das dies illustriert. Oftmals benötigen wir dazu Hilfe und Therapeuten, Ärzte, die geschult sind, auf diese leisen Töne zu hören. »Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre«, pflegte der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856 – 1939) zu sagen, wenn man versuchte, sein Zigarrenrauchen seiner eigenen Lehre gemäß zu deuten. Manchmal ist eine Krankheit einfach eine dumme Geschichte, die sich im Leben ereignet – ohne Grund und ohne Ziel. Manchmal ist Krankheit aber auch ein Zeichen, das uns darauf hinweist, dass wir etwas anders machen sollten. Dies zu unterscheiden ist nicht immer trivial, aber Patienten sind normalerweise sehr scharfsichtig in dieser Hinsicht. Sie würden Ärzte und Begleiter benötigen, die ihnen auf diesem Weg helfen und sich nicht nur als Körpermechaniker verstehen, die halt hier etwas wechseln und dort etwas reparieren.
Dies ist der Ort, an dem die vorher erwähnte »Kultur des Bewusstseins« ins Spiel kommt. Wer sich darin übt, auf diese leise innere Stimme zu hören und sich dafür auch Zeit nimmt, der kommt zum einen weniger in Gefahr, sich von sich selbst zu entfremden, und hat zum anderen im Ernstfall eher die Chance, genauer zu hören, was ihm jetzt gut tut und wie es weitergehen könnte. Hier trifft sich dann medizinische Therapie mit persönlicher Entwicklung.
Therapie als Gestaltung eines neuen Lebenskontextes
Wenn wir Krankheit als Entfremdung und nicht nur als lästige Störung eines Apparats auffassen, die man rasch beheben muss, dann ist auch die globale therapeutische Strategie eine andere. Dann würde es darum gehen, den weiteren Kontext in die Diagnose und Therapie mit einzubeziehen. Wie könnte das aussehen? Ein Patient
mit einem Verschluss der Herzkranzgefäße würde dann eben nicht einfach nur als mechanisches Problem gesehen, bei dem man nur die Mechanik der Blutversorgung in Ordnung bringen muss, indem man entweder entsprechende Medikamente gibt oder operativ eine Umleitung legt. Er würde in seinem Gesamtkontext gesehen werden:
Wie sieht seine Einbettung in die Natur aus und
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