Weg mit den Pillen
es schwierig werden.
Krankheit als Entfremdung
Klaus-Michael Meyer-Abich, der Nestor der deutschen Natur-, Medizin- und Ökologiephilosophie, hat vor Kurzem in einem wunderbaren Buch darauf hingewiesen, dass Krankheit Entfremdung ist. 108 Entfremdung von uns selbst, von unserem sozialen Eingebundensein, von unserer tieferen Natur und von der Natur überhaupt. Das ist ein sehr wichtiger Gedanke, denn er bringt ein neues Modell vom Menschen in die Diskussion. Der Mensch wird nicht mehr als Maschine gesehen, sondern als ein lebendes System unter vielen anderen. Er ist in einen Kontext von Leben eingebettet, den er nicht ungestraft ignorieren kann, sonst entfremdet er sich von seiner Natur und dadurch im Tiefsten von sich selbst. Krankheit ist also nicht nur Schicksal, sondern Krankheit ist auch das Resultat unserer eigenen Handlungen. Nicht nur, aber auch. Manchmal stößt uns wirklich etwas Schicksalhaftes zu. Dann ist es nicht immer nützlich, nach dem Grund zu fragen. Denn den gibt es vielleicht gar nicht. Manchmal aber sind wir selbst der Urheber unseres Leidens: zum Beispiel weil wir uns über Jahre hinweg geweigert haben, eine Änderung in unserem Ernährungsverhalten oder Lebensstil einzuführen, von der wir genau gespürt haben, dass sie notwendig ist. Durch unsere Wertsetzungen, weil uns etwa unsere berufliche Karriere und das Geldverdienen wichtiger war als die Familie, Freunde oder unser Wohlbefinden. Durch unsere Entscheidungen, weil wir uns entschieden haben, in einem bestimmten Beruf zu bleiben, obwohl wir gemerkt haben, dass er uns nicht gut tut. Die Beispiele ließen sich vermehren.
Entfremdung kann auch in einem sozialen Gesamtkontext einer Gesellschaft geschehen. Dann ist die Heilung eines Einzelnen Flickschusterei. Wenn die gesamte Gesellschaftsstruktur so ist, dass Krankheit erzeugt wird, dann müssen wir die Struktur ändern, nicht die Kranken. Wir kennen aus der Sozialmedizin mittlerweile eine Fülle von Beispielen. Wenn Menschen von oben unter Druck gesetzt werden, aber wenig Entscheidungsspielraum haben, dann erzeugt dies Stress und Krankheit. Oder wenn Menschen für ihre
Arbeit keine angemessene Bestätigung erhalten (ob das nun Lob vom Chef oder Bezahlung ist), dann werden sie krank. Nicht immer, aber häufig.
Entfremdung kann auch in einem größeren, ökologischen Kontext stattfinden: als Entfremdung von der Natur. Wir bewegen uns mittlerweile fast nur noch in künstlichen Umwelten, vom Büro bis zur Wohnung, und selten sehen wir Sonnenlicht und Natur. Letztere finden wir oft nur sehr gezähmt im Vorgarten oder im Park. Unser Denken und Handeln entfremdet sich von diesen natürlichen Zusammenhängen – Krankheiten entstehen, die aus meiner Sicht ein direktes Resultat dieser Tatsache sind. Ob dies nun dadurch passiert, dass wir Nahrung zu uns nehmen, die so denaturiert ist, dass wir uns damit selbst krank machen, oder dadurch, dass wir uns psychisch entfremden, ist vielleicht einerlei. Ich kann mir beispielsweise nicht vorstellen, dass auf einer Schule auf dem Land oder in den Bergen, wo Kinder noch sehr viel näher am Naturkontext leben, das Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom genauso verbreitet ist, wie dies in der Stadt der Fall ist.
Schließlich sollten wir auch die spirituelle Dimension nicht vergessen. Ich habe mich darüber kürzlich in einem separaten Buch ausführlich geäußert und will mich hier nicht wiederholen. 109 Es ist manchmal nützlich, unseren Weg und unser Leben nicht nur »von hinten«, aus dem bereits Erlebten heraus, zu verstehen. Wir können es auch aus dem Blickwinkel betrachten, was wir noch werden könnten, vielleicht sogar was wir sein sollen oder was an Anlagen in uns schlummert. Das betrifft unseren Wesenskern – die Frage, wer wir eigentlich, im Tiefsten, wirklich sind und werden können. Ich möchte das ganz nüchtern und unaufgeregt verstanden wissen als die Anlagen in uns, die sich entfalten wollen und die zur Entfaltung zu bringen unsere Lebensaufgabe ist. Jede spirituelle und religiöse Tradition hat andere Bezeichnungen dafür. In der christlichen Tradition ist der Begriff der Berufung dafür üblich. Ein Existenzialist wird vielleicht Lebensentwurf dazu sagen, andere mögen andere Begriffe verwenden. Es geht weniger um die Begriffe. Auch ist nicht wesentlich, ob wir uns nun vorstellen, diese Berufung würde
am Grunde unseres Wesens schlummern wie ein Same, oder ob wir denken, wir schaffen sie uns selbst.
Wichtig ist vielmehr, dass wir
Weitere Kostenlose Bücher