Wege des Herzens
merkt dir gar nicht an, wie betrunken du bist«, sagte Linda, fast ein wenig beleidigt. »Ich dachte, du kommst auf allen vieren daher«
Clara schwenkte enthusiastisch ihr Weinglas. Es war ihr erstes Glas Wein an diesem Abend, aber das musste Linda ja nicht wissen. »Oh, ich fürchte, ich bin schon weit über meinem Limit«, sagte sie. »Freut mich, dass man es mir nicht anmerkt. Ich muss nämlich noch kurz mit zwei, drei Leuten reden.«
»Lass dir ruhig Zeit, Clara«, erwiderte Linda erleichtert. Wenigstens würde sie ihre Mutter nicht zum Wagen tragen müssen. Sie war froh, dass sie ihr schwarz-weißes Seidenkleid angezogen hatte. Es stand ihr hervorragend. Außerdem war sie noch rasch in die dazu passenden, aber extrem unbequemen Schuhe geschlüpft und hatte ihre Sneakers in den Kofferraum des Wagen geworfen. In den Schuhen würde sie niemals fahren können. Neugierig sah Linda sich um und erkannte das eine oder andere Gesicht aus dem Fernsehen. Auch einige Politiker kamen ihr bekannt vor. O Gott, wie hatte sie diesen Empfang nur einen Kuchenbasar nennen können? Linda hätte gern gewusst, wo dieser schreckliche Frank wohl steckte, den ihre Mutter von Herzen hasste, und auch diese langweilig engelhafte junge Polin hätte sie gern kennengelernt. Sie schien all das zu verkörpern, was eine Mutter sich von ihrer Tochter wünschte, verschnürt zu einem kleinen, handlichen, hart arbeitenden Paket.
Als Linda sich umsah, fiel ihr ein sympathisch aussehender junger Mann auf, der die Übungspläne an der Wand gegenüber studierte. Der Mann trug kein Namensschild und musste daher ein Gast sein. Linda glaubte bemerkt zu haben, dass er ihr einen bewundernden Blick zugeworfen hatte, als sie gekommen war. Doch sie musste aufhören, sich solche Dinge einzubilden. Normalerweise erregten nur ihre langen Beine kurzzeitiges Interesse, sie selbst war den Leuten egal. Es war immer ihr größter Fehler gewesen, zu glauben, dass man sie bewunderte, obwohl die Blicke meist nicht das Geringste mit der Form von Bewunderung zu tun hatten, die Linda sich erhoffte.
Letztendlich war es Fiona, die die beiden miteinander bekannt machte, nachdem Clara sie um den Gefallen gebeten hatte.
»Sagen Sie einfach – das ist Nick Hickey, das ist Linda Casey. Bitte, Fiona, jetzt gleich.«
»Warum machen das nicht Sie oder Hilary?«
»Ich würde es Ihnen ja erklären, aber dann müsste ich Sie anschließend mundtot machen. Deshalb ist es besser, wenn Sie einfach tun, worum ich Sie bitte«, bedrängte Clara sie.
»Oho, soll da jemand verkuppelt werden? Werden wir es bald mit zwei Hochzeiten zu tun haben?«, scherzte Fiona.
»Wenn Sie so etwas auch nur andeutungsweise erwähnen, werde ich Sie auf eine der Behandlungsliegen schnallen, Ihnen nach allen Regeln der Kunst das Herz herausschneiden und es einem anderen wieder einsetzen«, entgegnete Clara so heftig, dass Fiona bereitwillig zustimmte.
»Ja, klar, ich habe verstanden.«
»Und dieses Gespräch hat nie stattgefunden«, fügte Clara hinzu.
»Welches Gespräch? Sie entschuldigen mich, Clara, aber ich habe noch einiges zu tun.« Fiona eilte hinüber in Johnnys Reich und erledigte ihren Job.
Sie war sehr schön, Claras Tochter. Sie brauchte keine Mutter, die versuchte, für sie einen Mann zu finden. Und was Nick betraf, er wirkte sehr leger und sah auch nicht so aus, als müsste er dringend verkuppelt werden. Aber sie hatte diese Aufgabe nun mal übernommen.
»Ich bin wegen meiner Mutter da, weil sie ein wenig zu viel getrunken hat«, sagte Linda.
»Ich auch, gewissermaßen. Wie passend!«, erwiderte Nick lachend.
»Wer ist denn deine beschwipste Mutter?«, wollte Linda wissen.
»Hilary Hickey«, antwortete er, »sie ist die Büroleiterin.«
»Meine Mutter ist Clara Casey«, sagte Linda dumpf.
»Oho, die oberste Chefin«, meinte er. »Ich verstehe.«
»Sie scheint mir allerdings noch ziemlich nüchtern zu sein.« Linda glaubte, ihre Mutter jetzt doch in Schutz nehmen zu müssen, und wollte nicht, dass dieser Büroleiterin zu Ohren kam, Clara wäre so etwas wie eine Schnapsdrossel.
»Heutzutage geht man besser auf Nummer sicher«, erklärte Nick jedoch anerkennend.
»Hast du irgendwas mit der Klinik zu tun?«
»Leider nicht«, sagte Nick bedauernd. »Mir war vorher gar nicht klar, was die hier auf die Beine gestellt haben. Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt.«
»Ich auch«, erwiderte Linda. Er hatte nicht gesagt, womit er sein Geld verdiente. Aber das war okay für sie. Sie
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