Wege im Sand
schien.
»Ich muss jetzt los«, sagte Maddie.
»Bitte nicht.«
»Richte Nell bitte aus, dass ich sie sehr lieb habe.«
Ihr Fenster war offen, ihre Hand lag auf dem Lenkrad. Jack wurde bewusst, dass er sie nicht einmal umarmt hatte. Er streckte die Hand durchs Fenster, seine Finger streiften ihre. Sie schüttelte den Kopf, unterdrückte ein Schluchzen.
»Sie liebt dich auch – du hast keine Ahnung wie sehr, Maddie«, sagte er. Aber sie ließ sich nicht aufhalten – wortlos fuhr sie davon.
Jack stand in der Einfahrt. Was war passiert? Warum hatte er alles verdorben? Das Verrückte war, dass seine Reaktion überhaupt keinen Sinn machte. Sie war nicht logisch – die Begegnung hatte zu früh stattgefunden, hatte ihn überrumpelt. Ein Jahr war vergangen, und trotzdem schmerzte ihn das Wiedersehen mit seiner Schwester so sehr, als sei der Unfall erst gestern geschehen. Maddie hatte Emma nicht auf dem Gewissen. Sie hatte lediglich das Bild zerstört, das er sich von Emma gemacht hatte.
Der Tod hatte ihm Emma genommen, aber sie war zu dem Zeitpunkt bereits entschlossen gewesen, ihn aus eigenem Antrieb zu verlassen. Die Begegnung mit Madeleine hatte ihm diese Erinnerung bewusst gemacht. Er musste sich über verschiedene Dinge klar werden, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen, wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen, um sein Augenmerk darauf richten zu können, seiner kleinen Tochter Vater und Mutter zu sein. Er hatte es ihrer Mutter überlassen, sie großzuziehen, und was war dabei herausgekommen? Er konnte sich jetzt keine weiteren Fehler mehr leisten. Nell war zerbrechlich und brauchte ihn.
Alles geschieht aus einem bestimmten Grund – pflegten ihm die Nonnen in der Schule zu sagen. Es war eine Binsenweisheit, die immer dann zutraf, wenn einem Schlimmes widerfuhr: wenn man in der Schule versagte, aus der Mannschaft geworfen wurde, die Eltern verlor. Seltsam, dass ihm diese Worte ausgerechnet jetzt wieder einfielen, als er in seiner Einfahrt stand. Madeleines Besuch hatte ihm eines vor Augen geführt: Er liebte sie noch genauso wie früher. Aber er war einfach nicht dafür gerüstet, sich bestimmten Gegebenheiten zu stellen, die damit einhergingen – der Wahrheit über Emma und der Lüge, zu der ihr gemeinsames Leben geworden war.
Seine erste, instinktive Reaktion war richtig gewesen – fortzugehen, so schnell und so weit wie möglich.
Nell und Peggy trennten sich nach dem Schwimmtraining von den anderen, um Tandem zu fahren. Sie beherrschten diese Kunst inzwischen perfekt, und heute war Nell an der Reihe, vorne zu sitzen und zu lenken. Sie schlug unverzüglich den Weg in Richtung Landzunge ein.
»Ich weiß, wohin wir fahren«, rief Peggy ihr von hinten zu.
»Weißt du nicht!«
»Blaues Haus, Herz aus Stein …«
»Ihr Haus ist nicht mehr blau. Und abgesehen davon, im Strandkino warst du doch ganz angetan von ihr, oder? Mir hat es Spaß gemacht.«
»Ich weiß.«
Da Peggy nicht wirklich widersprach, grinste Nell nur und fuhr hinter den Tennisplätzen entlang, bog um die Ecke in die schattige Straße ein, die sie zum Point führte. Als sie zu Stevies Haus gelangten, lehnten sie das Fahrrad unten an die Steinmauer. Nell nahm Peggy an der Hand, um ihr Mut zu machen. Sie erklommen die Stufen, gingen an dem Schild vorbei.
»Kannst du nicht lesen?«, flüsterte Peggy.
»Das betrifft mich nicht«, erwiderte Nell selbstbewusst.
Als sie zur Hintertür kamen, klopfte sie laut und wischte sich den Sand von den nackten Füßen. Peggy folgte ihrem Beispiel. Sie trugen Badeanzüge, die immer noch ziemlich feucht waren. Noch dazu waren sie voller Sand, weil die Wellen höher als sonst gewesen waren und den Meeresgrund aufgewühlt hatten. Nell überlegte stirnrunzelnd, dass es vielleicht besser gewesen wäre, sich vorher umzuziehen, als Stevie die Tür öffnete.
»Das ist aber eine Überraschung. Kommt herein!«
»Ähm, unsere Badeanzüge sind nass«, sagte Nell. »Und auch ein bisschen sandig. Tut mir Leid.«
»Quatsch. Beachgirls tragen immer nasse, sandige Badeanzüge. Ich freue mich über euren Besuch. Hallo Peggy.«
»Hallo.« Peggys Stimme war leiser, als Nell jemals zuvor gehört hatte.
»Wir kennen uns ja vom Strandkino. Wie geht es deiner Mom und Tara? Ist Joe unbeschadet zurückgekehrt?«
»Es geht ihnen gut, und Joe ist nichts passiert.« Peggy wagte es immerhin, den Blick zu heben. Sie sah sich verstohlen um. Vermutlich hielt sie nach Stevies schwarzem, spitzem Hexenhut,
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