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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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ihrem Auto, die Hände krampfhaft verschränkt.
    »Jack.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte lauf nicht davon.«
    »Das hatte ich nicht vor«, erwiderte er langsam.
    Er blickte sie aufmerksam an. Seit ihrer letzten Begegnung war ein Jahr vergangen, doch die Narben waren unübersehbar: dunkelrot, vom Hals bis zur Schulter, unter dem Kleid weiterlaufend. Sie hatte zugenommen, und ihr Gesicht wirkte aufgedunsen. Ihre Haare waren gebürstet, mit Schildpattkämmen zurückgehalten, die Lippen geschminkt. Die Mühe, die sie sich mit ihrem Erscheinungsbild gegeben hatte, brach ihm das Herz. Sie sah so verletzlich aus, dass er ihren Anblick kaum ertragen konnte.
    »Wie geht es dir?«, fragte er.
    »Gut, von Tag zu Tag besser«, erwiderte sie tapfer. »Ich weiß, ich sehe schrecklich aus – das liegt an den Steroidhormonen, die ich nach der Operation verschrieben bekam, davon nimmt man zu. Ich finde es grässlich, dass du mich so dick siehst.«
    »Maddie, du bist nicht …«
    »Bitte.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie keine weitere Unwahrheit zwischen ihnen ertragen. Jack schlug das Herz bis zum Hals. Er trat einen Schritt vor, wollte sie in die Arme nehmen. Aber sie schüttelte abermals den Kopf, so dass er abrupt innehielt, und barg das Gesicht in den Händen.
    »Ich habe versucht, dich anzurufen«, sagte er.
    »Ich wusste es«, schluchzte sie. »Ich wusste, dass du es warst. Warum hast du kein Wort gesagt?«
    »Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte, Maddie. Alles ist so kompliziert. Emmas Geständnis, ihr Verhalten … und dann der Unfall …«
    »Ich habe sie auf dem Gewissen. Ich hätte ihr nie im Leben etwas zuleide getan, aber als sie mich ohrfeigte, verlor ich die Kontrolle über den Wagen …«
    Jacks Magen verkrampfte sich. Er liebte seine Schwester, zweifelsohne, aber er ertrug es nicht, Einzelheiten über den Unfall zu hören. Emmas Beichte, ihre Gewalttätigkeit gegenüber Maddie – der Gedanke war zu viel für ihn, war unerträglich, selbst nach einem Jahr.
    Sie verstummte, erstarrte, als sie den gequälten Ausdruck in seinem Gesicht sah.
    »Ich möchte dir alles erklären«, sagte sie.
    »Nicht jetzt. Das ist der falsche Weg.«
    »Das ist der einzige Weg. Um dir begreiflich zu machen, dass es keine Absicht war, wenn ich alles zerstört habe.«
    »Hör auf, Maddie.« Schweiß rann seinen Nacken hinab, er fühlte sich elend. Es war vernünftiger, die Vergangenheit ruhen lassen. In diesem Sommer hatte er ein wenig Heilung gefunden – als er Stevie kennen lernte, Zeit mit ihr verbrachte, beobachten konnte, wie es Nell allmählich besser ging. Das Gespräch mit Aida hatte ihm geholfen, und zu sehen, wie sie mit ihrer eigenen Nichte umging. Auf Schritt und Tritt war er in Hubbard’s Point auf gute Erinnerungen an Emma – und Maddie – gestoßen.
    »Aber du musst mich anhören, Jack – du musst!«
    »Ich kann nicht!«, brüllte er.
    Die Stille, die eintrat, war ohrenbetäubend. Alle fröhlichen Aktivitäten in Hubbard’s Point wurden auf einen Schlag unterbrochen – Tennisbälle und Basketbälle liefen ins Leere, Radios wurden leiser gedreht, die Leute verstummten. Hier brüllte niemand. Jacks Stimme gellte in seinen eigenen Ohren. Madeleine stand vor ihm, leichenblass und wie gelähmt.
    »Tut mir Leid.«
    »Ich gehe«, erwiderte sie mit bebender Stimme.
    »Nein, Maddie …« Seine Hände zitterten. Er trat auf sie zu, aber sie stieg bereits ins Auto. Sie nestelte an ihrem Sitzgurt. Er hätte gerne die Hand nach ihr ausgestreckt. Aber er wagte nicht, sie zu berühren. Sie wirkte so verletzlich …
    »Jack. Ich liebe dich.«
    »Madeleine.« Ihre Blicke trafen sich, und er spürte, wie Tränen über seine Wangen liefen. Er konnte nichts darauf erwidern. Er liebte sie, aber er brachte es nicht über sich, die Worte auszusprechen. Wenn er an den Unfall dachte, war er manchmal so wütend auf sie, dass er sie am liebsten geschüttelt hätte. Doch zu anderen Zeiten richtete sich seine geballte Wut gegen Emma, die das Leben seiner Schwester aufs Spiel gesetzt hatte – hätte sie nicht in einer Krise gesteckt, wäre Madeleine nicht mir ihr weggefahren, entlang der verhängnisvollen Straße.
    »Was?«, fragte sie.
    »Fahr nicht.«
    »Ich hätte nicht herkommen sollen.«
    Der Anblick ihrer Augen brach Jack das Herz. »Maddie.« Er wünschte sich, dass es wieder so wie früher war, als die Liebe zu seiner Schwester die einfachste, selbstverständlichste Sache der Welt zu sein

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