Wege im Sand
gefühlt.«
»Aber die Schwanenboote waren schön, Dad. Und der Freedom Trail.«
Jacks Kopf begann zu schmerzen. Was hatten Sehenswürdigkeiten mit der Entscheidung zu tun, wo sich eine Familie häuslich niederließ? Abgesehen davon – hatten ihr die Schwanenboote wirklich gefallen? Er hatte eher den Eindruck gehabt, dass sie die Bootsfahrt langweilig fand, die er mit ihr unternommen hatte. Und beim Besuch der Old North Church war ihm, als hätte er eine Statue von Paul Revere im Schlepptau, als er die Kirchenstufen hinauf und den Mittelgang entlanggegangen war. Plötzlich bekam er einen Vorgeschmack, wie es sein würde, wenn er Loch Ness oder Inverness Castle mit ihr besichtigte. Was hatte er erwartet?
»Das Beste an Boston ist, dass es nicht weit von Hubbard’s Point entfernt ist. Bitte, Dad … Arbeite wieder bei Structural, das wäre prima.«
»Das geht nicht, Nell. Ich habe gekündigt. Und mein neuer Chef in Schottland wartet darauf, dass ich anfange.« Der Gedanke traf ihn wie ein Keulenschlag.
»Nein!«, schluchzte sie.
»Nell.«
»Bitte, Dad. Bitte tu es nicht. Mit gefällt es hier.«
»Mir auch«, sagte er. Doch selbst in dem Moment, als er die Worte aussprach, wusste er: Liebe ist nicht immer imstande, alle Probleme zu lösen. Sonst wäre es ihm gelungen, eine harmonische Ehe mit Emma zu führen. Sonst wären Madeleine und er in der Lage gewesen, die Beziehung zwischen ihnen zu kitten. Liebe war zweifellos eine treibende Kraft – aber sie führte die Liebenden oft in entgegengesetzte Richtungen. Und in dem Augenblick war er absolut sicher, dass der Umzug nach Schottland die einzig richtige Entscheidung war, so schwer sie auch sein mochte. Sie versprach einen Neubeginn: Sie würden Zeit haben, wieder auf die Beine zu kommen, sie beide, Nell und er.
Ich muss jetzt los, hatte Madeleine gesagt.
Das galt auch für Jack. Es war töricht zu glauben, dass er nicht mehr wegzulaufen brauchte.
»Nell, Schatz«, sagte er und streckte die Arme nach ihr aus.
»Du bist gemein!« Sie zerrte an ihren Haaren. »Merkst du das nicht? Du bist richtig gemein zu mir, Dad! Zuerst verbietest du mir, Tante Madeleine zu sehen, und jetzt bringst du mich von Stevie weg. Und von Peggy! Ich will nicht nach Schottland. Ich will nicht, ich will nicht …«
Schluchzend rannte sie die Treppe hinauf. Ihr herzzerreißendes Weinen war durch die Fußbodendielen zu hören, und Jack saß unten in einem Sessel, und sein eigenes Herz drohte dabei zu zerspringen.
In dieser Nacht konnte Stevie nicht schlafen. Sie lag im Bett und lauschte den Wellen, die sich auftürmten und brachen, mit einer Wucht, die Nells Welt zum Einsturz brachte. Draußen auf hoher See braute sich ein Sturm zusammen, und der Wind wurde mit jeder Stunde stärker. Der Mond war im Abnehmen begriffen, war aber noch voller als ein Halbmond. Durch die hohen Wolken gefiltert, schien sein Licht die ganze Nacht in ihr Fenster, bis sie schließlich aufstand, ihren Badeanzug und ein Hemd anzog und zum Strand hinunterging.
Der Nachthimmel war dunkelblau, erhellt vom Schein des Mondes. Dünne Schleierwolken schoben sich vor ihn, verhüllten das Licht. Stevie ging bis ans Ende der Bucht, spürte den harten Sand unter ihren Füßen. Die Wellen schwappten ans Ufer und ins Meer zurück, umspülten ihre Knöchel. Hier hatte sie seit frühester Kindheit Liebe und Glück gefunden, in den Sommermonaten mit Emma … und später zu dritt, mit Madeleine.
Einmal Beachgirl, immer Beachgirl …
Was war schief gelaufen? Und warum hatte sie das Gefühl, beide enttäuscht zu haben – ihre zwei liebsten Freundinnen? Sie hatte versucht, Madeleine mit Emmas Familie auszusöhnen und Nell im Schoß der Gemeinde willkommen zu heißen. Ihr Herz war schwer; sie hätte Einsiedlerin bleiben sollen. Während sie kräftig ausschritt, wurde die Nacht immer dunkler und undurchdringlicher. Sie hörte die Brandung, sah den weiß gekräuselten Kamm der Wellen, im Mondlicht silbrig glänzend. Von Osten her wehte ein feuchter, salziger Wind, brannte auf ihren Wangen.
Unweit der Fußgängerbrücke ließ sie ihr Hemd auf den Sand fallen, stand im Badeanzug da. Sie hatte das dringende Bedürfnis, schwimmen zu gehen, sich vom Salzwasser tragen zu lassen – brauchte das Gefühl, gehalten zu werden, wenn auch nur vom Meer. Im Augenblick war Ebbe, das Wasser hatte sich weit zurückgezogen. Sie hatte seit jenem ersten Morgen, als Jack auf der hölzernen Strandpromenade gesessen und ihr zugesehen hatte,
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