Wege im Sand
ihrem Umhang und dem Besenstiel Ausschau. Tilly hockte in der Ecke, unterzog die beiden einer strengen Musterung. Nell kicherte, bückte sich und streckte die Hand aus. Zum ersten Mal kam Tilly zu ihr, um sich an ihr zu reiben.
»Sie erkennt mich wieder! Sie hat mir neulich beim Tischdecken geholfen!«
»Sie freut sich, dass du da bist, wie man sieht. Rate mal, was ich gerade tun wollte.«
»Ein Bild für dein Buch malen?«, fragte Nell. Dann wandte sie sich voller Besitzerstolz an Peggy. »Sie hat ein Buch gemacht, nur für mich und meinen Dad. Über ein magisches Schloss, das es wirklich gibt; wir sind hingefahren. Mein Dad ist gerade dort, hilft Tante Aida, den Hügel vor den bösen Bulldozern zu retten.«
»Aha, da steckt er also.« Stevies Stimme klang ein wenig seltsam.
Nell nickte. »Er war jeden Tag dort. Er hat mir die Zeichnungen gezeigt, die er gemacht hat, damit das Schloss nicht noch mehr verfällt. Heute wollte er sich den Wald anschauen, um Brücken und Fußwege zu planen. Das ist sein Spezialgebiet – Brückenbauen.«
»Toll«, meinte Peggy.
Stevie lächelte, aber ihre Miene war ein wenig besorgt. Nell hatte ein ungutes Gefühl – als hätte sie etwas Falsches gesagt. Deshalb berührte sie Stevie am Ellenbogen und versuchte sie abzulenken: »Was wolltest du gerade tun?«
»Ebby das Fliegen beibringen. Kommt mit rauf.«
»Ebby?«, fragte Peggy, auf dem Weg durchs Haus.
»Der Vogel, den mir dein Bruder gebracht hat. Eine Krähe, schwarz wie Ebenholz; deshalb habe ich sie Ebony genannt. Spitzname Ebby.«
Peggy ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, über die bequemen alten Sitzmöbel aus Weidengeflecht, die verblichenen Kissen, die Häkelteppiche, die Körbe mit Muscheln und Steinen und die Gemälde an der Wand. Das Haus war farbenfroh und anheimelnd, meilenweit entfernt von einem Hexenhaus. Nell lachte über Peggys verdatterte Miene.
Oben in Stevies Atelier hatte der Vogel bereits erste Flugversuche unternommen: Die Käfigtür stand offen, und er saß oben auf dem Gehäuse. Nun flatterte er hoch und ließ sich hoch droben auf Tante Aidas riesigem Gemälde nieder. Dann hob er abermals ab, um auf einem Balken an der Decke zu landen.
»Hier malen Sie?«, fragte Peggy mit großen Augen.
»Ja.«
»Toll.«
»Schaut mal.« Stevie führte die Mädchen zu einem Seitenfenster mit Blick auf ihre Terrasse, wo die roten Blumen blühten. Als Nell nach unten blickte, entdeckte sie mehrere Kolibris und erinnerte sich an den Besuch bei Tante Aida. Die gemeinsame Erinnerung bewirkte, dass sie sich Stevie noch enger verbunden fühlte, und sie lehnte sich an sie. Aber Stevie deutete heute nicht auf die Kolibris.
»Da hinten, seht ihr?« Nell blickte angestrengt hinaus auf eine Zeder, die hinter der Terrasse aus blauem Feldstein wuchs. Mehrere Krähen verbargen sich in ihrem Geäst.
»Was machen die da?«, fragte Peggy. Sie wich einen Schritt zurück, als jagte ihr der Anblick der Vögel Angst ein.
»Ich glaube, sie warten auf Ebby«, sagte Stevie.
»Das ist ihre Familie!«, rief Nell atemlos.
»Wahrscheinlich hast du Recht, Nell«, meinte Stevie. »Die Krähe ist das Totemtier der Indianer; sie steht für schöpferische Kraft, spirituelle Stärke und Treue.«
»Woher weißt du das?«
»Vögel interessieren mich, ich studiere sie. Für die Bücher, die ich schreibe.«
Peggy zupfte Nell am Arm. »Vielleicht ist sie doch eine Hexe«, flüsterte sie lautlos.
Nell schüttelte unbeirrt den Kopf. Peggy und sie traten einen Schritt zurück, als Stevie das Fenster öffnete und das Fliegengitter entfernte. Eine frische Brise wehte herein, blähte die Vorhänge auf. Die Krähen blieben von dem Lärm unbeeindruckt – sie verharrten reglos im Geäst, warteten.
Ebby flog vom Dachsparren hoch und begann, im Raum zu kreisen, während die Mädchen mit angehaltenem Atem zusahen. Die kleine Krähe war beträchtlich gewachsen seit der Zeit, als Billy sie zu Stevie gebracht hatte – sie war kein weiches, flaumiges Baby mehr, sondern flügge. Nell ergriff instinktiv Stevies Hand.
Ebby landete auf der Fensterbank. Sie hob den Kopf, blickte zum Himmel empor. Die Krähen in der Zeder fingen an zu krächzen. Nell hatte eine Gänsehaut an den Armen. Sie dachte sie an ihre eigene Familie: an ihren Vater, Tante Madeleine und Onkel Chris, die auf sie warteten.
»Mach schon, sie warten auf dich«, flüsterte Stevie.
Plötzlich erhob sich Ebby in die Lüfte, mit schimmernden schwarzen Flügeln. Zunächst noch
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