Wege im Sand
mit zu vielen Taschen. Eine Sache, die sie an Hubbard’s Point störte, war, dass die Leute ständig ihre Nase in Dinge steckten, die sie nichts angingen. Die Gemeinde war klein und abgeschottet wie eine Insel. Keine Spur von der weitläufigen Offenheit und Anonymität einer Großstadt wie New York City … Wer immer er sein mochte, er würde nichts Besseres zu tun haben, als zu verbreiten, dass die Jugendlichen einen Blick auf »die Hexe« erhaschen wollten und durch ihre Fenster gelugt hatten.
Stevie rollte sich auf die Seite; den ausgestreckten Arm im Gestrüpp der Pflanzen, versuchte sie, den Vogel zu ergreifen. Ihre Finger streiften Federn.
»Lassen Sie mich mal«, sagte der Mann. »Meine Arme sind länger.« Ohne die Antwort abzuwarten, kniete er sich hin, schloss seine Hand um den Vogel und hielt ihn Stevie entgegen.
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Stevies Hand umfasste die kleine Krähe; sie wollte unverzüglich ins Haus. Sie überlegte, wie sie den Vogel gesund pflegen und ihn vor Tilly in Sicherheit bringen konnte. Doch der Mann rührte sich nicht von der Stelle. Vielleicht hatte sie ihn wirklich verhext: Er starrte sie an, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihn kannte. Die Konturen seines Gesichts, die Form seines Mundes – er musste Nells Vater sein.
»Jack?«, fragte sie.
»Richtig – hallo Stevie. Ich habe gehört, dass du meine Tochter kennen gelernt hast.«
»Ja. Sie ist wunderbar. Jack – es tut mir so Leid …«
»Emma. Ich weiß. Danke.«
Er schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen, genau wie Stevie. Im Morgenmantel, mit zerzausten Haaren und einem aus dem Nest gefallen Vogel in der Hand, war sie vermutlich der Inbegriff einer überspannten Künstlerin. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Möchtest du ins Haus kommen? Ich würde gerne mit dir reden …«
Er schien zu zögern, nach einer Ausrede zu suchen. Er warf einen Blick auf seine Uhr – einen wuchtigen Chronometer –, dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin verabredet. Tut mir Leid, aber ich muss los.«
5. Kapitel
J ack kehrte in ein leeres Haus zurück. Er trat ein, schloss die Tür hinter sich, blickte sich um. Es gab kaum etwas Deprimierenderes als ein gemietetes Ferienhaus, wenn man nicht einmal wusste, weshalb man überhaupt an diesen Ort gekommen war. Und dann der seltsame Geschmack anderer Leute, was Kunstgegenstände, Mobiliar, Teppiche betraf. War es möglich, dass jemand allen Ernstes diesen orangefarbenen Makramee-Wandbehang ausgesucht hatte? Jack runzelte frustriert die Stirn – er war auf dem besten Weg, ein notorischer Griesgram zu werden, der an allem etwas auszusetzen hatte.
Er holte seine Aktentasche, seine Dokumentenmappe und sein Handy herbei. Überprüfte die Zeit: In Inverness war es jetzt kurz vor vier. Die Nordsee, für ihn die nächste Herausforderung. Francesca hatte den Weg geebnet, unabsichtlich, während ihrer Schottlandreise im April. Romanov hatte Gefallen an ihr gefunden, war beeindruckt von den Referenzen der Firma. Für die Ausschreibung wurden Angebote abgegeben, aber Jack wollte die Gelegenheit nutzen, persönlich mit dem Mann zu sprechen, dem die endgültige Entscheidung oblag.
Während er auf das Läuten seines Handys wartete, versuchte er, sich zu beruhigen. Was hatte ihn dermaßen aus der Fassung gebracht? Der Gedanke, dass er Nell am Strand in der Obhut einer Frau zurückgelassen hatte, die er nicht kannte? Nein – das war nicht der springende Punkt. Laurel machte einen zuverlässigen, verantwortungsbewussten Eindruck, und das Hubbard’s Point Freizeitprogramm hatte es schon in seiner eigenen Kindheit gegeben; außerdem war Nell durchaus in der Lage, den Schulweg alleine zu bewältigen – gleich ob zu Hause in Atlanta oder in Boston. Sobald sie sich eingewöhnt hatte, war alles in bester Ordnung.
Das Telefon klingelte – fünf Minuten zu früh.
»Jack Kilvert«, sagte er so geschäftsmäßig, als säße er in seinem Büro, das auf den Hafen von Boston hinausblickte.
»Hallo«, ertönte Francescas kehlige Stimme. »Bist du am Strand?«
»Nicht genau«, erwiderte er, ein wenig schuldbewusst. Niemand in der Firma – Francesca eingeschlossen – ahnte etwas von seinen Plänen.
»Auf dem Tennisplatz, auf einem Segelboot oder auf dem Golfplatz, bereit zum Abschlag? Ich hoffe nur, dass du dich draußen in der Sonne aufhältst und nicht zu Hause hockst.«
»Ich wollte gerade das Haus verlassen«, erwiderte er mit einem gezwungenen Lachen; er brannte darauf,
Weitere Kostenlose Bücher