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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Twenty-third Street erstanden.
    Sie saß an der Staffelei und versuchte, sich auf ihr Bild zu konzentrieren, als sie draußen einen dumpfen Aufprall vernahm. Sie ignorierte das Geräusch. Seit Nells Besuch waren mehrere Tage vergangen. Sie hatte zwei davon damit verbracht, Zaunkönige zu zeichnen, und nun war sie wieder zu den Kolibris zurückgekehrt. Die Klettertrompeten an der Nordseite des Hauses zogen sie an wie ein Magnet. Sie hatte seit Wochen ein Kolibripärchen beobachtet – das Weibchen mit einem gedämpften grünen Federkleid, das Männchen mit einem leuchtenden smaragdfarbenen Gefieder und rubinroter Kehle.
    Doch im Augenblick konnte sie nur an Emma denken – und an Nell. Sie nippte an ihrer Teetasse – sie war gesprungen, trug ein blaues Rosenmuster und stammte aus dem Sammelsurium des guten Porzellans ihrer Großmutter – und erinnerte sich an die »Teepartys«, die sie mit den Beachgirls veranstaltet hatte. Sie hatten Limonade zubereitet und sie aus den Tassen getrunken. Diese hier war Emmas Lieblingstasse gewesen. Bei dem Gedanken füllten sich ihre Augen mit Tränen.
    Plötzlich hörte sie ein Scharren; Tilly, von der Rücklehne des Sofas aufgescheucht, flitzte davon und suchte Deckung. Dann ertönte eine Stimme: »Whuuuuuaaaa, halt!« Und gleich darauf das Scheppern von Metall, das gegen Stein prallte. Stevie hörte dieses Geräusch nicht zum ersten Mal. Sie seufzte und hoffte, dass niemand schlimm verletzt war. Ihre Augen trocknend, zog sie den Morgenrock enger um sich und eilte zum Fenster.
    Die Leiter lag auf der Seite. Die Jungen waren in sämtliche Himmelsrichtungen versprengt – sie lugten aus dem Gebüsch und hinter den Felsen hervor. Einer kletterte gerade die Eiche hinunter. Ein anderer jagte einer jungen Krähe auf dem Boden nach.
    Aus dem Augenwinkel nahm sie einen Mann wahr, der durch ihren Garten lief. Er sprang über die niedrige Buchsbaumhecke, war offensichtlich hervorragend in Form, wie ein Footballspieler am College. Aufgeschreckt durch das Chaos, lief sie barfuß nach unten, zur Küchentür hinaus und auf die Gruppe zu.
    »Alles in Ordnung?«, fragte der Mann und beugte sich über einen Jungen, der sein Handgelenk umklammerte.
    »Klar«, erwiderte der Junge. »Nur ein bisschen gequetscht.«
    »Du sollest zum Arzt gehen«, erklärte der Mann.
    »Du solltest künftig darauf verzichten, Leitern an die Häuser fremder Leute zu stellen«, sagt Stevie mit finsterer Miene. »Man kann nie wissen, was einem blüht.« Ihr Ton war so Unheil verkündend, dass zwei Jungen das Weite suchten. Einer kroch weiterhin auf allen vieren herum und versuchte offenbar, etwas unter dem Gestrüpp der Geißblattranken hervorzulocken.
    »Was hast du da?«, fragte Stevie.
    »Hau ab, Billy!«, rief ihm einer seiner Freunde zu. »Sie verwandelt dich in eine Schlange!«
    Stevie bemühte sich, jede Reaktion zu unterdrücken. Manchmal brachten die Streiche der Halbwüchsigen sie zum Lachen, doch heute fühlte sie sich ausgeschlossen, andersartig, abgelehnt, und unwillkürlich traten Tränen in ihre Augen. Der sommersprossige Junge rührte sich nicht vom Fleck; er konzentrierte sich darauf, an den Vogel heranzukommen.
    »Eine junge Krähe. Sie ist aus dem Nest gefallen oder so. Sie hat vorher wie verrückt gekrächzt, aber jetzt ist sie plötzlich ganz still … ich habe versucht, sie zu füttern, aber sie frisst nicht. Deshalb wollte ich sie zur Tierärztin bringen …«
    »Komm endlich, Billy – vergiss den Vogel!«, riefen seine Freunde.
    »Ich kann nicht!«
    »Geht, alle miteinander«, sagte Stevie. »Geht nach Hause, dann werde ich darauf verzichten, euch in Reptilien zu verwandeln. Ich kümmere mich um den Vogel.«
    Der Junge blickte sie an, Besorgnis in den braunen Augen. Dann nickte er und zog mit seinen Freunden ab. Stevie kniete sich auf den Boden, beobachtete die kleine braune Krähe, die sich im Schatten versteckte. Sie hatte sich gegen den steinigen Untergrund gepresst, die Nackenfedern wie ein Kragen gesträubt.
    »Brauchen Sie Hilfe?«, fragte der Mann.
    »Ich glaube nicht«, erwiderte Stevie kühl. »Sind Sie der Vater eines der Jungen?«
    »Nein – ich kam zufällig vorbei, sah eine Leiter umfallen und wollte nachschauen, ob sich jemand verletzt hat.«
    Stevie musterte ihn verstohlen. Er kam ihr irgendwie bekannt vor – als wäre sie ihm früher einmal begegnet, am Strand. Hochgewachsen, dunkle lange Haare, fast schwarz, trug er eine Sonnebrille, ein weißes Hemd und Khakishorts

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