Wege im Sand
den Anruf so schnell wie möglich zu beenden, um die Leitung frei zu haben.
»Das ist auch besser so. Du bist nämlich mein allerwichtigstes Projekt. Ich werde dafür sorgen, dass du dich bis zum Ende des Sommers prächtig amüsierst. Übrigens, ich rufe an, weil ich einige Unterlagen für dich habe. Ich könnte sie dir natürlich faxen. Aber wäre es nicht viel netter, wenn ich sie dir persönlich vorbeibringe? Sagen wir heute Abend?«
»Francesca, die Fahrt ist viel zu weit«, begann er und blickte abermals auf seine Uhr. Noch drei Minuten bis zum erwarteten Anruf …
»Du bist ein hoffnungsloser Fall! Geht es schon wieder um deine Tochter? Jack, am Strand wimmelt es mit Sicherheit vor Babysittern. Such ein nettes Mädchen, das Geld braucht, und nimm dir den Abend frei!«
»Hör zu, Francesca. Heute Abend geht es nicht. Fax mir die Papiere durch, wenn es dir nichts ausmacht – ja? Ich muss los.«
Sie schwieg. Er wusste, dass er sie barsch abgefertigt hatte. Doch die Uhr tickte unerbittlich – und war es nicht ohnehin besser für sie, wenn sie wusste, woran sie war, lieber früher als später? »Natürlich, viel Spaß«, erwiderte sie und legte auf. Jacks Herz fühlte sich an, als wäre es in einen Schraubstock gespannt. Der Schmerz war groß – in seinem Körper, in seiner Seele. Er dachte daran, dass Emma ihn oft aufgefordert hatte zu beten. Die Erinnerung ließ ihn erschauern. Er kam sich seit geraumer Zeit wie ein zum Tode Verurteilter vor – der bevorstehende Anruf war eine Art Wiedergutmachung. Er saß da, in kalten Schweiß gebadet, wartete auf das Läuten.
Er senkte den Kopf. Er brauchte Aufschub, eine Verschnaufpause seines Universums. Er schloss die Augen – und was er sah, überraschte ihn.
Stevie Moore. Sie hatte so ausgesehen, wie er sich fühlte: wie ein Gespenst, dazu verdammt, in diesem Leben zu verharren. Was hatte sie an diesem strahlenden Morgen gemacht, halb angekleidet wie sie war? Die Spuren auf ihren Wangen rührten von Tränen her. Das wusste er genau. Schließlich war er Experte, was Tränen betraf.
Ihr fester Handschlag und das warmherzige Lächeln hatten ihn verblüfft. Genau wie ihre Größe: Sie war klein und zierlich. Nicht größer als einen Meter sechzig, grazil. Ihr Morgenrock war mindestens vier Nummern zu groß, der Gürtel eng geschnürt. Sie hatte glatte, kinnlange schwarze Haare und einen Pony, der sich über den großen veilchenblauen Augen teilte. Ihre Haut war blass und makellos. Abgesehen von den Tränenspuren.
Er sah wieder vor sich, wie sie den bedauernswerten kleinen Vogel in ihren gewölbten Händen gehalten hatte. Keine Mutter, kein Vater. Wenigstens hatte Nell ihn … Er schüttelte den Kopf. Wozu war er überhaupt gut? Er klammerte sich an das Bild von Stevie, die den Vogel hielt. Festhielt, und festhielt …
Das Telefon läutete. Der Klingelton schreckte ihn auf. Sein Puls beschleunigte sich, sein Herz klopfte wie verrückt. Es musste klappen …
»Hallo«, sagte er. »Jack Kilvert am Apparat …«
Nell und Peggy gewannen den Staffellauf. Sie besiegten nicht nur die anderen Mädchen, sondern auch die Jungen. In ihren marineblauen Badeanzügen sahen sie wie Teamkameradinnen aus – als hätten sie sich heute Morgen abgesprochen und wären bereits die besten Freundinnen.
Peggy hatte feuerrote Haare und Sommersprossen zuhauf; sie trug einen lässigen Sonnenhut, um ihr Gesicht vor der Sonne zu schützen, und den sie nur ablegte, wenn sie schwimmen ging. Sie hielt praktisch die ganze Zeit Nells Hand – sogar beim Schwimmwettbewerb, als sie sich, auf dem Rücken liegend, im unbewegten Wasser der Bucht treiben lassen mussten.
»Es kommt mir so vor, als wärst du meine Schwester!«, gestand Nell, als die Wettkämpfe vorüber waren und die ganze Gruppe, die am Freizeitprogramm teilnahm, eine Ruhepause auf dem Handtuch einlegte.
»Ich kläre dich lieber auf«, sagte Peggy. »Meine Schwester Annie ist im Teenageralter und schert sich keinen Deut um mich! Sie will nur noch mit ihrem Freund beisammen sein, ihrer neuesten Flamme! Meine Mutter sagt immer zu ihrer Freundin Tara: ›Die Familie kann man sich nicht aussuchen, wohl aber die Freunde.‹«
Nell ließ die Schultern hängen. »Wenn ich mir meine Familie aussuchen könnte, müsste sie so sein, wie sie ist.«
»Ich auch. Aber Freunde kommen an zweiter Stelle. Gleich nach dem ersten Platz – du solltest meine Mom und Tara sehen. Sie machen alles gemeinsam.«
»Meine Mom hatte auch solche
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