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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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    Peggy ergriff Nells Hand, und gemeinsam liefen sie ins Wasser, tauchten mit einem Kopfsprung unter die erste Welle. Erhitzt von der Sonne, war das eisige Salzwasser ein Schock, und sie kamen mit einem schrillen Schrei an die Oberfläche. Nell dachte an ihre Mutter, die Stevies Hand gehalten hatte. Oder Tante Madeleines … Peggys Blick war auf eine Stelle über Nells Kopf gerichtet, auf das Cottage auf dem Hügel – als überlegte sie, genau wie Nell, was ein Beachgirl an einem so herrlichen Tag zum Weinen bringen mochte.

    Frisch geschlüpfte Krähen, Blauhäher und Stare waren Insektenfresser. Die Eltern fingen Mücken und Kribbelmücken, kauten sie vor und würgten sie wieder heraus. Ihre Nachkommen wuchsen heran, verwandelten sich schließlich in Allesfresser, Ziegen der Vogelwelt: Sie verschlangen alles, was sie fanden. Diese schmale Kenntnis hatte Stevie ihrer Lektorin zu verdanken: Ariel Stickler war eine Pedantin, was wissenschaftliche Details anging, und sie legte Wert auf gefühlsbetonte Liebesgeschichten. Diese Kombination machte sie zu einer hervorragenden Lektorin – die Stevie gedrängt hatte, Krähentotem zu schreiben.
    »Krähen sind ein Ausbund an Treue«, sagte sie, aus ihrem eigenen Buch zitierend, als sie versuchte, die kleine Krähe dazu zu bewegen, eine zerquetschte Fliege zu verspeisen. »Wusstest du das?«
    Der Vogel weigerte sich, sich zu rühren oder den Schnabel zu öffnen. Tilly schlich auf dem Gang vor dem Schlafzimmer hin und her, kratzte an der Tür. Stevie fragte sich, wie ausgeprägt die Reaktionen des Vogels sein mochten, ob er die Geräusche als unmittelbare Bedrohung für sein junges Lebens erkannte. Sie versuchte es immer wieder, bis der Vogel schließlich den Schnabel öffnete – vielleicht um zu krächzen – und sie die Fliege hineinschieben konnte.
    »Na also. War das nicht köstlich?«
    Es musste wohl geschmeckt haben, denn das Vogeljunge sperrte den Schnabel abermals auf und nahm ein Mückenpaar und eine weitere Fliege zu sich, die sie einer Spinnwebe an der Hintertür entnommen hatte. Das Landleben, dachte sie … Klettertrompeten, Kolibris, Spinnweben, eine mutterlose Krähe; die Natur vor ihrer Haustür, eine Quelle der Inspiration für ihre Arbeit.
    »Und jetzt eine für Emma.« Sie stopfte dem Vogeljungen die nächste tote Fliege in den Schnabel.
    Emma hätte darüber gelacht. »Danke, Stevie«, hätte sie gesagt. »Eine tote Fliege.« Sie hatte einen makaberen Hang zum schwarzen Humor. Stevie drehte die Zeit zurück … die warme Meeresbrise weckte Erinnerungen.
    Die Luft auf ihrer Haut, als sie in Stevies Hillman-Cabrio zum Bahnhof von New London fuhren, um Maddie abzuholen, die von einem Besuch bei ihrer Tante in Providence zurückkehrte. Zwei sechzehnjährige Mädchen, die nasse Badeanzüge unter ihren T-Shirts trugen, feuchte Haare, die im Wind wehten – nichts hätte sie vom Strand losreißen können, außer der Ankunft ihrer Freundin.
    Das Zentrum von New London hatte damals anders ausgesehen. Dem Verfall preisgegebene Schönheit und tiefste Armut hatten die alte Walfängerstadt geprägt. Während der Fahrt entlang der Bank Street hatten sie eine obdachlose Frau entdeckt: Zusammengekrümmt lag sie auf einer Türschwelle gegenüber dem historischen Custom House.
    »Wir müssen ihr helfen«, hatte Stevie gesagt und war an den Straßenrand gefahren. Die Haut der Frau war rissig und ihre Kleidung verschmutzt. Ihre Haare wirkten stumpf, ungewaschen. Ein Einkaufswagen von Two Guys enthielt ihren ganzen Besitz.
    »Und wie?«, hatte Emma gefragt. »Sie ins Auto verfrachten und an den Strand mitnehmen?«
    »Ja, und ihr etwas zu essen geben.«
    Die beiden Freundinnen hatten sich angesehen, und Emma hatte gemerkt, dass Stevies Vorschlag ernst gemeint war. Sie stammten aus Familien mit einer völlig unterschiedlichen Weltsicht. Stevies Vater hatte seiner Tochter beigebracht, dass alle Menschen miteinander verbunden waren, zusammengehalten durch Malerei und Poesie. Emma hatte von ihren Eltern gelernt, dass es einzig und allein darum ging, mit den Nachbarn mithalten zu können: Nachbarn waren nicht dazu da, dass man ihnen half, sondern dass man sie als Maßstab für den eigenen Erfolg benutzte. Emma griff sanft nach Stevies Hand.
    »Ich mag dich. Aber du spinnst.«
    »Nein, Em – wir haben keine andere Wahl …«
    »Weißt du nicht, dass es noch andere Möglichkeiten gibt … einige sogar. Dafür gibt es schließlich Wohltätigkeitsorganisationen.

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