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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Es befand sich in einem silbernen Rahmen und zeigte eine Frau und ein kleines Mädchen. Sie standen neben einer Staffelei, hielten beide einen Pinsel in der Hand und blickten feierlich in die Kamera. Waren das Stevie und ihre Mutter?
    Als Nell Schritte hörte, fuhr sie herum. Stevie stand im Türrahmen.
    »Bist du das?« Nell deutete auf das Foto.
    »Ja.«
    »Mit deiner Mutter?«
    »Nein. Mit der Schwester meines Vaters. Tante Aida. Sie ist der Grund dafür, dass ich Künstlerin geworden bin.«
    »Ist sie Künstlerin?«
    »Ja, Malerin. Eine ziemlich bekannte. Sie malt große Bilder, die aussehen … wie weit offene Räume.«
    »Was bedeutet das? Moderne Kunst, wie das Bild dort drüben?« Nell deutete auf ein Gemälde, das nur zwei Farben aufwies. Es hing an der Wand, hinter Stevies Bett, ein sehr großes Rechteck, das aus zwei Quadraten bestand: einem weißen und einem hellblauen. Mehr war darauf nicht zu sehen.
    Stevie lachte, als hätte Nell den Nagel auf den Kopf getroffen. »Genau. Das stammt aus Tante Aidas Strandserie.«
    Nell betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen. Der Raum war dunkel, deshalb schaltete Stevie die Lampe ein. Das blaue Quadrat war oben. »Blauer Himmel, weißer Sand?«, fragte sie.
    »Tante Aida würde dich lieben«, sagte Stevie und kicherte.
    Nell grinste. Doch dann wurde sie ernst. Ein furchtbarer Gedanke fuhr ihr durch den Kopf. »Lebt sie … noch?«
    »Oh, sie lebt. Sie ist sogar quicklebendig.«
    »Wie meine Tante.«
    »Ja«, erwiderte Stevie, aber ihr Lächeln war überschattet.
    Nell fasste sich ein Herz. Sie musste etwas fragen, und dafür galt es, ihren ganzen Mut zusammenzunehmen. »Stevie«, begann sie.
    »Wie wäre es mit einem Stück Schokoladenkuchen?«, fragte Stevie behutsam. »Doch zuerst werde ich das Buch über die Pinguine suchen, das ich dir schenken möchte …!« Sie begann, ein Bücherregal zu durchsuchen, musterte jeden Titel.
    »Stevie!«
    Als ahnte sie, was Nell fragen wollte, begann Stevie, noch eifriger zu suchen. Sie nahm eine Lesebrille mit halben Gläsern, wie Nells Vater sie zuweilen trug, und setzte sie auf.
    »Nell!«, rief Jack von unten herauf. »Komm jetzt. Es ist schon spät, wir müssen gehen.«
    »Wo ist bloß dieses Buch?«, murmelte Stevie.
    »Komm jetzt, Nell!«, rief Jack, nun lauter.
    »Sie ist deine Freundin«, sagte Nell plötzlich.
    Stevie hielt einen Moment inne, bevor sie die Suche wieder aufnahm.
    »Deine Strandfreundin. Solche Freundinnen hören nie auf, Freundinnen zu sein …«
    »Da ist es ja!« Stevie zog ein dünnes Buch aus dem Regal. Sie sah so unerschütterlich und klug aus mit ihren dunklen Haaren, dem Pony und den Halbgläsern, dass Nell mit einem Mal das Bedürfnis hatte, sich in ihre Arme zu flüchten. Doch sie hielt sich zurück, selbst als Tränen über ihre Wangen liefen.
    »Meine Tante Madeleine«, sagte Nell, unfähig, den Tränen Einhalt zu gebieten. »Ich vermisse sie so sehr, so sehr! Du musst sie unbedingt anrufen! Sie ist deine Freundin! Madeleine Kilvert, genau wie früher, sie heißt genau wie wir. Mein Vater hasst sie, aber ich liebe sie! Genau wie du deine Tante Aida liebst!« Sie brach in lautes Schluchzen aus und fühlte sich mit einem Mal von Stevies Armen umfangen. Stevie hob sie hoch, drückte sie an sich, küsste sie auf den Nacken, genau wie Nells Mutter, wie Tante Madeleine.
    Ihre Tränen waren heiß auf der Haut, und ihr Schluchzen ließ die Luft erzittern. Sie vernahm die Schritte ihres Vaters und spürte, wie er sie von Stevie löste. Nell wusste nicht mehr, ob sie müde oder vom Kummer überwältigt war, weil sie die beiden Frauen in ihrem Leben vermisste, aber sie hörte, wie sie weinte, als ginge die Welt unter, hörte ihren Vater flüstern: »Ist gut, Nell. Weine nicht, mein Schatz, weine nicht …«
    »Es tut mir so Leid«, sagte Stevie.
    »Schon gut«, entgegnete ihr Vater mit seiner verärgerten Stimme, die besagte: Nichts ist gut.
    »Ich möchte Tante Madeleine!«, weinte Nell.
    »Ich hätte sie nicht nach oben lassen sollen. Ihr nicht das Foto zeigen dürfen …«
    »Sie ist sehr sensibel«, meinte ihr Vater.
    Dann sagte Stevie etwas in der Art, dass sie verstehen würde und sich nicht wieder einmischen wolle. Nell spürte, wie Stevies Lippen ihre tränennasse Wange streiften und die harte Kante eines Buches, das in ihre Hand gedrückt wurde. Einen Arm um den Hals ihres Vaters geschlungen, schluchzte sie während des ganzen Rückwegs zu dem gemieteten Cottage und umklammerte

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