Wege im Sand
gelangt, ihr bisheriges Leben sei frivol gewesen und eine drastische Kehrtwende sei unumgänglich. Als Nell sieben war, beschloss sie, keinen Weihnachtsschmuck mehr zu verwenden: Sie spendete das Geld, das sie sonst für Christbaum, Girlanden und Lichter ausgegeben hätte, für einen wohltätigen Zweck. Jack war entrüstet, weil Nell so enttäuscht reagierte. Madeleine erinnerte sich insgeheim an Emma, Stevie und die obdachlose Frau in New London; sie fragte sich, ob Emma vielleicht Sühne leistete für die zehn Dollar, die sie zurückbehalten hatte.
Oder war Emma wirklich daran gelegen, ein gutes Werk zu tun – ihre Arbeitskraft unentgeltlich dort zur Verfügung zu stellen, wo es zählte, einen eigenen Beitrag zu leisten, um die Welt ein wenig zu verändern? Sie hatte nicht wissen können, dass diese Wahl ihre Familie letztlich zerstören würde.
All das und mehr kam in Madeleines anfänglicher Reaktion auf Stevies Einladung zum Tragen: Besorgnis, Erinnerungen an eine glückliche Zeit, Aufregung, Neugierde und das Bedürfnis, sich jemandem zu offenbaren. Doch als sie nun in Richtung Süden fuhr, über die Grenze zwischen Rhode Island und Connecticut, und Hubbard’s Point immer näher rückte, schwand ihre Zuversicht.
Stevies Zeichnung von den drei Mädchen … Stevie, Madeleine und Emma. Beachgirls im Bann des Mondscheins. Maddie musste daran denken, was Emma vor langer Zeit verkündet hatte: Die Tage gehören uns, die Nächte ihnen …
Emma. Während der Fahrt konnte Madeleine nicht umhin, immer wieder einen raschen Blick auf den leeren Beifahrersitz zu werfen. Sie vermisste ihre Schwägerin. Nach dem Unfall, als sie die Schulter- und Armverletzungen in der Rehabilitationsklinik auskurierte, war sie mit anderen Patienten zusammengekommen, genau wie sie Überlebende eines tragischen Unfalls. Eine Frau, die ihren rechten Arm verloren hatte, erzählte Madeleine von ihren Phantomschmerzen, die sie an ihrem Stumpf empfand.
»Manchmal sitze ich da und habe das Gefühl, dass mein rechter Arm juckt, und dann möchte ich kratzen. Das Jucken ist so real! Oder ich ertappe mich dabei, dass ich nach einem Stift greifen will – ich bin Rechtshänderin –, und bin verblüfft, weil das nicht geht. Das ist so, als hätte ich einen Phantomarm.«
Als Madeleine an Mystic Seaport vorbeifuhr, wusste sie, dass sie an dem »Phantom-Emma-Syndrom« litt. Sie konnte nicht fassen, dass sie nicht mehr da war – sie nicht auf der Fahrt begleitete, plauderte, den Sender im Radio wechselte, von Madeleines bevorzugten Rock Oldies zu erlesener klassischer Musik.
Und ein Syndrom führte zum nächsten. Nun litt Madeleine unter dem Phantom-Jack-Syndrom, dem Phantom-Nell-Syndrom. Sie vermisste ihren Bruder und ihre Nichte unsäglich. Das Gefühl verblasste nicht mit der Zeit, sondern wurde immer schlimmer.
Wie war sie überhaupt auf die Schnapsidee gekommen, nach Hubbard’s Point zurückzukehren, wo Jack und Emma sich kennen gelernt hatten? Möglich, dass Stevie gerne an die drei halbwüchsigen Mädchen zurückdachte, aber für Madeleine hatten die lebhaftesten Erinnerungen an Hubbard’s Point mit einer intakten Familie zu tun, die sich dort eingefunden hatte.
Wie sollte sie das einer Frau erklären, die ihre Ehemänner gewechselt hatte wie manche Leute ihre Schuhe? Stevie war mit Sicherheit auf ihre Art fantastisch, aber man konnte kaum erwarten, dass sie verstand, was Madeleine durchmachte. Sie musterte ihr Gesicht im Rückspiegel; das letzte Jahr, ein einziger Albtraum, hatte sichtbare Spuren hinterlassen. Sie hatte zugenommen und sich angewöhnt, mehr zu trinken, als ihr gut tat – um Dinge zu vergessen, deren Erinnerung sie nicht ertragen konnte.
Hoffentlich erstreckte sich Stevies Freigeistigkeit auch darauf, dass sie einem Drink nicht abgeneigt war. Sie hatte zwei Flaschen Champagner mitgebracht – Mumm Cordon Rouge. Sie mussten schließlich stilgerecht auf den Julimond anstoßen!
Die Betäubung, die sich dabei einstellte, war der einzige Fluchtweg, der ihr blieb.
Peggys Tante Tara besaß ein Tandem. Nach dem Freizeitprogramm und dem Mittagessen gingen die beiden zu ihr, um eine Fahrradtour zu unternehmen. Solange ihr Vater geschäftlich in Boston war, hatte Peggys Mutter Nell unter ihre Fittiche genommen; sie hielt sich ebenfalls bei Tara auf. Die beiden Frauen zeigten den Mädchen, wie das blaue zweisitzige Fahrrad funktionierte: Sie fuhren damit auf der verkehrsarmen Straße hinter dem Deich hin und
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