Wege im Sand
sie Tante Madeleine vermisste, die Katze aus dem Sack gelassen hatte. Nell wusste, dass die Entscheidung ihres Vaters, den Kontakt zu ihrer Tante abzubrechen, endgültig war und er verhindern wollte, dass Stevie die Dinge wieder aufrührte und noch schlimmer machte.
Bei dem Gedanken füllten sich ihre Augen mit Tränen. Hätte sich Peggy zufällig umgedreht, hätte sie behauptet, das sei der Wind oder sie habe Staub ins Auge bekommen. Sie fuhren bis zum Ende der Straße, dann kehrten sie um.
Als sie zum zweiten Mal am Haus vorbeikamen, sah Nell, dass das Schild immer noch an Ort und Stelle stand:
BETRETEN VERBOTEN
Sie biss sich auf die Lippe. Sie wollte nicht weg. Sie sehnte sich danach, den Hügel zu erklimmen, an Stevies Tür zu klopfen, Ginger Ale mit einer Scheibe Pfirsich zu trinken, Stevies und Tante Aidas Bilder anzuschauen und über ihre Mutter, Tante Maddie und alles Mögliche zu reden.
In ebendiesem Augenblick kam ihnen langsam ein Wagen entgegen. Der Fahrer schien nach einer Adresse Ausschau zu halten, denn er sah das Fahrrad nicht – Peggy musste zur Seite ausweichen, um einen Zusammenprall zu vermeiden. Die abrupte Bewegung bewirkte, dass Nells Magen flatterte.
»Verrückte Rhode-Island-Fahrer!«, schimpfte Peggy.
»Rhode Island?«
»Ja. Auf dem Nummernschild waren ein Segelboot und die Herkunft ›Ocean State‹ zu sehen.«
Nell antwortete nicht; sie dachte, wie sonderbar es war, dass ein Wagen aus Rhode Island gerade in dem Augenblick vor Stevies Haus vorbeifuhr, als sie in Tagträume von ihrer Tante versunken war. Tante Madeleine und Onkel Chris waren nach Rhode Island gezogen. Providence. Nell wusste es, weil ihre Tante ihr immer noch Postkarten schickte. Sie durfte nicht antworten, aber Tante Maddie gab die Hoffnung nicht auf.
Peggy lenkte das Rad in Richtung Hügel, der zum Strand führte.
»Mach dich bereit!«, rief sie Nell zu. »Glaubst du, wir schaffen den Abhang?«
»Ich hoffe.«
»Dann halte dich gut fest!«
»Mach ich.«
Sie fuhren schneller. Nell drehte sich halb um und spähte über ihre Schulter, um einen letzten Blick auf Stevies schattenblaues Haus zu werfen. Sie versuchte, das Auto aus Rhode Island zu entdeckten, aber Peggy fuhr zu schnell.
Wenn die Dinge nur anders lägen, dachte Nell. Wenn wir nur alle beisammen sein könnten.
Sie klammerte sich an die Griffe, mit denen sie nichts ausrichten konnte, und schloss die Augen, weil Peggy lenkte und es ohnehin keine Rolle spielte. Sie spürte den Wind, der durch ihr Haar strich, und wiederholte wieder und wieder ihren Wunsch.
10. Kapitel
S tevie hatte am Vorabend nach Einbruch der Dunkelheit einen Spaziergang gemacht. Barfuß war sie die Straße zu Jacks Haus entlanggegangen. Sie hatte hinter der Ligusterhecke gestanden, den Grillen gelauscht und den Salzgeruch des Windes gerochen. Er raschelte in den Blättern der Bäume.
Die Fenster des Cottage waren weit geöffnet. Stevie hätte Jack am liebsten gerufen, ihn gebeten, ihr die Tür zu öffnen, sie hereinzulassen. Sie hätte ihn gerne gefragt, wie Nells Besuch bei Dr. Galford verlaufen war. Sie trat einen Schritt auf die Hecke zu, doch dann hielt sie inne.
Die beiden saßen auf dem Sofa. Der goldene Schein einer Tischlampe fiel auf Nells braune Haare; Jacks Kopf war gebeugt, dicht an ihrem, und der beständige Klang seiner Stimme drang durch das geöffnete Fenster.
»›Die Feldmaus rannte auf den umgestürzten Baum zu und kroch in das Loch, als die Eule die Dunkelheit durchbrach und herabstieß, mit geöffneten Klauen …‹«
Stevie sah, wie sich Nell unter seinen Arm schmiegte, hörte Jacks Tonfall, als er aus ihrem Buch Eulennacht vorlas. Nell genoss sichtlich die Nähe ihres Vaters, und Jack musterte sie verstohlen, um sicherzugehen, dass sie nicht zu viel Angst hatte. Stevie stand wie angewurzelt hinter der Hecke im Garten. Sie wünschte sich mehr als alles in der Welt hineinzugehen. Doch dann machte sie kehrt und ging durch die laue Nacht nach Hause zurück.
Nun hielt sich Stevie abermals zurück und beobachtete, wie ein andersartiges Drama seinen Lauf nahm, das ebenfalls Nell betraf – sie stand an ihrem Küchenfenster, wartete auf Madeleines Ankunft und sah, wie ein Tandem vorbeifuhr. Genau in dem Moment kam ein beigefarbener Wagen langsam die Straße entlang; sie sah, wie das Rad am Ende der Sackgasse umdrehte und zurückfuhr, erkannte Nell und ihre Freundin, und dann hielt sie den Atem an, als Madeleine dem beigefarbenen Auto entstieg.
Ihr Herz
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