Wege im Sand
gefestigter Stimme. »Das Schlimmste, was in der Welt eines Kindes geschehen kann. Die Mutter zu verlieren … Aber Nell ist stark, und sie hat dich. Du machst deine Sache prima.«
»Obwohl ich Maddie von ihr fern halte?«
Stevie musterte ihn, als sei sie noch unentschlossen, wie viel sie preisgeben sollte. »Ich verstehe deine Beweggründe nicht.« Sie konnte sein Verhalten nicht gutheißen – nicht einmal so tun als ob. Sie blickte ihm stumm in die Augen, als könnte sie ihn dazu bringen, klein beizugeben und seine Meinung zu ändern.
Dazu sah sich Jack außerstande.
Er ließ Stevies Hand nur widerwillig los, aber er wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. Sie standen nahe beieinander. Er war völlig ausgelaugt, nahm kaum wahr, dass er einen Schritt zurücktrat, sich verabschiedete. Aber er klammerte sich an ihr Lächeln …
Unmittelbar nach seiner Rückkehr ließ er sich einen Termin für eine Notfall-Sitzung bei Dr. Galford geben. Ein kurzer Abstecher in seine Praxis außerhalb von Boston, nach den Sprechzeiten, damit der Doktor Nell in seinem Terminkalender unterbringen konnte. Jack saß im Warteraum, während seine Tochter im Sprechzimmer war, bei ihrem Psychiater. Ob sie wohl malte? Oder dachte sie sich eine Geschichte über ihre Mutter und ihre Tante aus, die sie beide in ein und demselben Jahr verloren hatte?
Jack hatte keine Ahnung. Er versuchte, nicht an seine Schwester zu denken, und daran, wie sehr Nell sie vermisste. Fuhr Maddie gerade nach Hubbard’s Point? Oder war sie bereits da? Er klammerte sich an das Bild von Stevies Lächeln, an die Worte, die sie gesagt hatte: Ich halte dich für einen wunderbaren Vater.
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Zweiter Teil
9. Kapitel
M adeleine Kilvert packte eine kleine Reisetasche für eine oder zwei Übernachtungen, vergewisserte sich, dass Amanda das Büro voll im Griff hatte, und verabschiedete sich mit einem Kuss von ihrem Mann. Sie fuhr die Einfahrt ihres alten Hauses hinab, die Benefit Street entlang und auf den Highway. Chris hatte nichts dagegen, dass sie ihn allein ließ – er war ein fantastischer Ehemann und für alles zu haben, was sie aufheiterte.
Stevies Einladung hatte sie anfangs in eine Hochstimmung versetzt wie schon lange nichts mehr. Sie hatte die Post geholt, hatte sämtliche Rechnungen und Kataloge durchgesehen. Da war ein weißer Umschlag mit einer vage vertrauten Handschrift – wo hatte sie die schon mal gesehen?
Der Poststempel – Black Hall, Connecticut – löste eine Lawine von Erinnerungen aus. Die Sommer in Hubbard’s Point, eine Reihe gemieteter Cottages – in einem von ihnen hatte sie sich ein Zimmer mit ihrem Bruder teilen müssen –, die sichelförmige Bucht, die sich zwischen die felsigen Landspitzen schmiegte, die Tage des Faulenzens mit ihren beiden besten Freundinnen …
Stevie – die Post war von Stevie Moore.
Die Karte war verlockend kurz und ohne Umschweife:
Deine Anwesenheit
Ist erwünscht
Um den Vollmond
Zu feiern
Absage wäre bedauerlich …
Darunter befand sich eine Bleistiftzeichnung, eine Rückenansicht von drei jungen Mädchen, die auf einer Mole saßen, sich an den Händen hielten und den Vollmond betrachteten, der aus dem Meer aufstieg. Das Mondlicht schimmerte, bildete einen leuchtenden Pfad auf dem Wasser.
Auf einem Spruchband über den Köpfen der drei hieß es: BEACHGIRLS IM BANN DES MONDSCHEINS . Unter das Bild hatte Stevie Datum, Adresse und die Worte geschrieben: »Übernachtung einplanen!«
Madeleine hatte sich beeilt, Chris die Karte zu zeigen.
»Ein Original von Stevie Moore«, sagte sie.
»Deine berühmte Freundin. Ich habe viel von ihr gehört im Lauf der Jahre … fantastische Zeichnung.«
»Sie stellt uns drei dar. Sie weiß nichts von Emma.«
»Wie hat sie deine Adresse herausgefunden?«
»Keine Ahnung.« Madeleine starrte die Einladung an.
Stevie war ihre wunderbare »Freundin, die abhanden gekommen war«. Früher hatten sie sich alle drei sehr nahe gestanden. Doch dann war Emma nach Chicago gezogen, und die Kilverts hatten aufgehört, die Sommermonate in einem gemieteten Ferienhaus in Hubbard’s Point zu verbringen. Emma war bald Teil der Familie, hatte sich in Jack verliebt. Doch mit dem Wechsel aufs College hatten sie Stevie aus den Augen verloren. Sie hatte ihnen noch eine Weile geschrieben – Madeleine erkannte ihre Handschrift; sie erinnerte sich, dass Stevie in Georgetown studiert und dass sie Post von der RISD , der Rhode Island School of Design, erhalten
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