Wege im Sand
Emma völlig vermurkst. Das durfte kein zweites Mal passieren – nicht mit Nell. Er straffte sich und richtete sich auf.
»Nach dem Tod meiner Mutter. Ich ging jede Woche hin. Sie war meine Rettung.«
»Wirklich?«
»Wirklich«, erwiderte sie mit Nachdruck.
»Was hast du bei ihr gemacht? Wie hat sie ihr geholfen?«
»Wir haben gespielt. Sie hatte ein Puppenhaus, Spielsachen, Puppen. Ich saß an ihrem Tisch und zeichnete. Ich wusste es damals nicht, aber ich lernte, mein künstlerisches Talent zu entfalten, meiner Welt Sinn zu verleihen, indem ich Geschichten erzählte, zum Beispiel über … über Vögel. Vogelmütter und ihre Jungen …«
»Wie in deinen Büchern.«
»Ja. Es war leichter, über Wanderdrosseln zu schreiben, die aus dem Nest fallen, oder über Blauhäher, die wegfliegen und nicht zurückkehren, als über Menschen. Malt Dr. Galford mit Nell?«
»Ich weiß nicht. Wir haben uns darauf verständigt, dass alles, was in der Therapie geschieht, Sache der beiden ist.«
»Gut.« Stevies Lächeln kehrte zurück. »Mein Vater hat es genauso gehalten. Es war eine Sache zwischen Susan und mir. So hieß sie – Susan.«
»Ich wollte Nell einen unbeschwerten Sommer gönnen. Damit sie eine Zeit lang ein ganz normales Leben führen kann … und die herrlichen Ferientage am Strand nicht durch Sitzungen bei ihrem Therapeuten unterbrechen muss.«
»Vielleicht könnte sie die Ferien am Strand dann besser genießen. Wenn sie ihren Therapeuten aufsucht.«
Jack bewegte seine Hand auf der Frühstückstheke; seine Finger streiften Stevies. Sie zog ihre Hand abrupt weg, doch als er in ihre Augen sah, entdeckte er darin so viel Gefühl, dass er sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Sie war erschüttert – vielleicht erinnerte sie sich an ihre eigene schmerzliche Kindheit. Er musste ihr sagen, wie sehr ihm das Gespräch mit ihr half. Doch ehe er den Mund aufmachen konnte, kam sie ihm zuvor.
»Ich habe gespürt, dass der Besuch Nell neulich Abend aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie an Emma erinnere. Und ihre Mutter und ich befreundet waren … oder dass sie Zeit in diesem Haus verbracht hat. Und ich glaube, sie sehnt sich danach, Madeleine wiederzusehen, und hofft, dass sich dieser Wunsch durch mich erfüllt.«
»Das stimmt«, sagte Jack, der immer noch Nells Weinen hörte, das immer noch in seinen Ohren klang.
»Ich habe beschlossen, mich von Nell fern zu halten. Ich werde sie – oder dich – nicht wieder einladen. Das ist nicht persönlich gemeint …«
»Stevie.«
Sie wich zurück. Er sah, wie sie zitterte und ihr Lächeln erstarb. Das Gespräch schien sie bis ins Mark zu erschüttern – aber welcher Teil? War es Nell? Oder Emma? Oder dachte sie beim Anblick der dunklen Ringe unter seinen Augen und des Zweitagebarts, der dringend einer Rasur bedurfte, um wie viel besser es ihrem Vater gelungen war, die Familie zusammenzuhalten?
»Ich bin nur gekommen, weil ich deinen Rat brauchte«, sagte er. »Ich hätte dich nicht damit belästigen sollen.«
Sie trat auf ihn zu, nahm seine Hand. Die Berührung zerriss ihm das Herz.
»Du belästigst mich nicht«, flüsterte sie. »Es ist nur … ich fürchte, dass ich euch mehr schade als nutze. Im Moment zumindest. Irgendetwas scheint Nell an jenem Abend aufgewühlt zu haben. Und zu allem Überfluss habe ich Madeleine hierher eingeladen.«
»Wirklich?« Jacks erste Reaktion war Freude – gefolgt von einem Anflug von Panik, der schließlich die Oberhand gewann.
»Ja. Aber keine Bange – ich werde nichts überstürzen oder auf Teufel komm raus versuchen, Frieden zu stiften.«
»Obwohl du mit meiner Entscheidung nicht einverstanden bist?«
»Trotzdem. Ich halte dich für einen wunderbaren Vater. Und ich möchte dir keinesfalls ins Handwerk pfuschen. Ich werde mich zumindest bemühen, Ehrenwort. Aber wenn du mich schon um Rat fragst … warum bringst du Nell nicht wieder zu Dr. Galford?«
»Und dann?«
»Wartest du ab, ob es ihr besser geht. Und wenn ja …«
Können wir zurückkommen, dachte Jack. Können Freunde sein … Er blickte sich um: Madeleine würde Stevie besuchen. Was wäre, wenn er nachgab – und den Kontakt zwischen Nell und Maddie zuließ? Es würde beide glücklich machen. Doch der Gedanke, seiner Schwester zu begegnen, ihr in die Augen zu schauen, sie wieder in ihr Familienleben aufzunehmen … Das war zu viel.
»Was Nell durchmacht, ist furchtbar«, sagte Stevie mit
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