Wege im Sand
Madeleine vergessen hatte – einen steinigen, verborgenen Trampelpfad durch das Gebüsch, der direkt zu Stevies Cottage führte. Sie blickte in das Geäst der Bäume empor, das sich über ihnen ausbreitete, den strahlend blauen Himmel mit glänzenden Blättern begrünend, und spürte einen Kloß im Hals.
Zu Hause angekommen, ging Stevie als Erstes unter die Außendusche. Sie bückte sich, um Käfer von einem Hortensienbusch zu klauben. »Für den Vogel«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
»Aha.«
Madeleine spülte sich mit einem Gartenschlauch den Sand von den Füßen; dann ging Stevie nach oben, um sich umzuziehen und ihren Vogel zu füttern. Madeleines hatte Kopfschmerzen und Bauchweh. Der Aufenthalt am Strand hatte ihr zugesetzt. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihre Seelentrösterin aus dem Kühlschrank zu holen: Flasche Nummer zwei.
Stevie betrat die Küche in dem Moment, als Madeleine den Champagner entkorkte.
»Ich hoffe, es stört dich nicht«, sagte sie. »Ich habe das Bedürfnis zu feiern. Ich finde es unfassbar, dass wir zusammen sind.«
»Es ist wirklich unfassbar.« Stevie strahlte, als hätte sie ein Geheimnis und könnte es kaum noch erwarten, es zu offenbaren. Madeleine war aufgefallen, dass sie auf dem Weg zum Strand hochgradig angespannt gewesen war. Vielleicht hing es damit zusammen. Stevie schenkte sich ein Glas Eistee ein, dann hoben sie ihre Gläser.
»Mal sehen. Wir haben auf die Beachgirls getrunken und auf unser Wiedersehen … worauf trinken wir jetzt?«, fragte Madeleine.
»Wie wäre es mit einem Beachgirl der neuen Generation …«, sagte Stevie ernst und sah in Madeleines Augen. »Ich wollte dir von ihr erzählen, als wir am Little Beach waren. Nachdem du den Kreis gezeichnet hattest …«
»Einer neuen Generation …?«
»Nell.«
Madeleine blinzelte ungläubig, als sie den Namen hörte. Stevie blickte sie stumm an. »Wovon redest du?«, fragte Madeleine verwundert.
»Ich habe sie kennen gelernt, Maddie. Sie ist hier – in Hubbard’s Point, am Strand, mit deinem Bruder. Sie haben ein Ferienhaus in der Nähe des Tennisplatzes gemietet.«
12. Kapitel
S ie hätte Madeleine nicht damit überrumpeln sollen – Stevie sah den verwundeten Blick in ihren Augen, kaum dass die Worte heraus waren. Madeleine nahm die Sonnenbrille ab, schlug die Hände vor die Augen und schluchzte auf. Sie zitterte so am ganzen Körper, dass Stevie die Arme um sie legte. Nach ein paar Minuten lösten sie sich voneinander.
»Es tut mir Leid, dass ich dir einen Schrecken eingejagt habe«, sagte Stevie.
»Ich glaube nicht, dass es deine Schuld ist, ich bin nur erschrocken, weil mein Bruder und meine Nichte hier sind. Was machen sie ausgerechnet in Hubbard’s Point?«
»Jack hat sich von seiner Firma nach Boston versetzen lassen …«
Madeleine schüttelte den Kopf. »Es schmerzt, so etwas von dir zu hören. Statt von ihm selbst. Er ist hier in Neuengland und konnte mich nicht ein einziges Mal in Providence anrufen? Um es mir persönlich zu sagen?«
»Wie es scheint, hat er …«, Stevie zögerte, »alle Hände voll zu tun.«
»Wegen Nell?« Madeleine holte geräuschvoll Luft. »Erzähl mir von ihr, Stevie. Ich habe sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.«
»Sie ist etwas ganz Besonderes.« Sie führte Madeleine ins Wohnzimmer, zu der kleinen Couch, auf der Jack und Nell gesessen hatten. Sie nahmen gemeinsam darauf Platz, so dass sich ihre Knie berührten, und Stevie begann zu erzählen. Sie schilderte ihre kurzen braunen Haare und die strahlenden grünen Augen, ihren wachen Verstand, ihr leichtes Lächeln.
Sie sah, wie Madeleine auf jede Einzelheiten reagierte, eifrig darauf bedacht, mehr zu hören, obwohl es sie sichtbar schmerzte. Es war viel geschehen seit der letzten Begegnung mit ihrer Nichte; Stevie wünschte, sie könnte ihr den Schmerz ersparen, müsste ihrer Freundin nichts von dem Mädchen erzählen, das sie offensichtlich durch und durch kannte und liebte.
»Sie geht in Boston zur Schule?«
»Ja.«
Madeleine kniff die Augen zusammen. »Sie war ganz begeistert von ihrer Schule in Atlanta und den Lehrern … ich mag gar nicht daran denken, wie es war, sie zu verlassen. Emma entschied sich für das Haus, in dem sie wohnten, weil es in dem Viertel eine hervorragende Schule gab. Nell lernte gerne, vom ersten Tag an.«
»Sie scheint blitzgescheit zu sein.«
»Stimmt. Sie besitzt eine rasche Auffassungsgabe, begreift schnell. Sie hat Emmas Neugierde und Ehrgeiz
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