Wege im Sand
musste es Francesca sein.
»Geh weg«, murmelte sie in ihr Kissen.
Nur wenige Minuten verstrichen, dann hörte sie es ein zweites Mal klopfen – an ihrer Schlafzimmertür. »Nell?«, rief ihr Vater.
»Dad«, sagte sie, erschöpft und den Tränen nahe. »Bitte schick Francesca weg und sag ihr, dass wir nicht nach Boston zurückkehren! Und dann komm herein, weil ich meine Stevie-Geschichte brauche.«
»Francesca ist nicht da. Und du bist heute Abend ein richtiger Glückspilz. Du bekommst die Geschichte von Stevie höchstpersönlich zu hören.«
Nell setzte sich mit einem Ruck im Bett auf, blinzelte in den Lichtschein, der sich von der Flurlampe in ihr Zimmer ergoss, und entdeckte Stevie, die sie anlächelte und sich auf ihre Bettkante setzte, ohne ein Buch in den Händen, und zu erzählen begann.
15. Kapitel
N ell rutschte ein Stück, um Platz für Stevie zu machen. Jack drückte sich in der Nähe der Tür herum, als sei er unschlüssig, ob er bleiben oder gehen sollte. Stevie lächelte ihm aufmunternd zu, wartete. Er war groß, und seine breiten Schultern verdeckten das Flurlicht. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie wünschte sich mehr als alles andere auf der Welt, er möge neben ihr Platz nehmen.
»Setz dich, Dad … du darfst mithören«, sagte Nell.
»Oh, ich glaube, Stevie ist deinetwegen hier, um dir eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Ich gehe so lange nach draußen …«
»Sie ist für euch beide«, erklärte Stevie.
Er kam näher, dann hielt er inne – als hätte er sich eines Besseren besonnen, als neben ihr auf dem Bett zu sitzen. Er ging hinaus und schleppte aus dem Zimmer nebenan einen Stuhl mit hoher Rückenlehne herbei. Auf dem Pergamentschirm der Nachttischlampe befand sich ein Schiffsruder, das Stevies Hände und den Skizzenblock in ein warmes orangefarbes Licht hüllte.
»Die Geschichte, die ich euch erzählen möchte, handelt von Lovecraft Hill«, begann sie. »Das ist ein verwunschenes Schloss, ein uraltes Gemäuer inmitten von Wiesen und Wäldern, mit Blick auf einen majestätischen Fluss, der genau an dieser Stelle ins Meer mündet. Efeu und andere Kletterpflanzen ranken sich an den Mauern des Schlosses empor …« Während sie erzählte, zeichnete sie, gab die Bilder an Nell weiter.
»Lebt dort eine Prinzessin?«, fragte Nell.
»Nein. Das Schloss und das Land, auf dem es sich befindet, gehören der Natur. Aber es wird von einer weisen alten Tante gehütet.«
»Eine Tante«, flüsterte Nell. Stevie zeichnete eine Frau, eine Kreuzung aus Aida und Madeleine. Sie hörte, wie Nell nach Luft schnappte; sie hob den Blick, um zu schauen, wie Jack reagierte. Seine Augen funkelten, er sah sie an, schenkte ihrer Zeichnung keinerlei Beachtung.
»Das Schloss ist alt und verfällt zusehends.« Stevie fiel es schwer, ihren Blick von ihm zu lösen. »Durch die Sturmwinde bröckelt das Mauerwerk des Turms. Die Treppenstufen drohen einzubrechen. Fledermäuse nisten im Gebälk und Kletterpflanzen überwuchern die kupfernen Regenrinnen.« Mit wenigen Strichen skizzierte sie die verwunschene Ruine.
»Auf dem Abgang des Hügels wachsen Georgia-Kiefern, soweit das Auge reicht, die Vögeln und anderen Tieren Schatten und Schutz bieten. Finken, Drosseln, Singvögel und Rotkehlchen bauen dort ihre Nester aus Zweigen und Kiefernnadeln. Sie legen ihre Eier ab, ziehen ihre Jungen auf. Rotwild, Waschbären und Kaninchen sind dort ebenfalls beheimatet. Der tiefe Wald gewährt ihnen Schutz und Nahrung. Ein Sanktuarium, in dem sie überleben können, so dass sie nicht in den Lebensraum des Menschen eindringen müssen …«
Stevie zeichnete rasch eine Reihe von Bildern, die Rotwild beim Überqueren der verkehrsreichen Küstenstraße zeigten und wie es sich an Blumen und Sträuchern um ein Wohnhaus gütlich tat; sie zeichnete Waschbären, die über eine Mülltonne stolperten, und Kaninchen, die Besitz von einem Salatbeet ergriffen – Nell kicherte.
»Auf der anderen Seite des Schlosses und der Kiefernwälder befindet sich Old Oaks, der älteste Wald in Connecticut. Er ist dicht bewachsen und hoch. Tief im Innern findet man noch die ›Dawn Redwoods‹, Uralte-Mammutbäume, die auf eine Zeit zurückgehen, als das Land unbewohnt war. Eulen leben in diesem Teil des Waldes. Nachts hört man ihren schaurigen Ruf, und nur die mutigsten Menschen wagen sich in dieses Dickicht hinein, um ihm zu folgen.«
»Wie hört sich der Ruf an?«, flüsterte Nell, und Stevie ahmte den Vogelschrei nach, den Tante
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