Wege im Sand
Aida ihr beigebracht hatte, als sie so alt wie Nell gewesen war.
»Hu-huu-hu-huu-huu-huu …«
Nell versuchte es ebenfalls, und schon beim ersten Mal gelang es ihr. Stevie zeichnete drei Frauen, die im dichten Wald standen: Stevie, die weise Tante und Nell. Nell strahlte.
Stevie fuhr fort, erzählte aus dem Stegreif und zeichnete dazu. Es war das erste Mal, dass sie sich für ein bestimmtes Kind, ein Mädchen aus Fleisch und Blut, eine Geschichte ausdachte. Es war ein unglaubliches Gefühl – nicht zuletzt deshalb, weil Jack sich vorbeugte, offenbar genauso interessiert wie Nell. Ihre Knie berührten sich, was Stevie wie einen Stromstoß empfand, der sie am ganzen Körper erzittern ließ.
Nell wurde müde, die Augen fielen ihr zu.
»Soll ich aufhören?«, fragte Stevie.
»Nein«, riefen beide Kilverts wie aus einem Munde.
»Der Grund und Boden, auf dem sich das Schloss befindet, gehört der Natur, aber andere haben ebenfalls ein Auge darauf geworfen«, fuhr Stevie fort. »Es steht zu befürchten, dass Männer mit Bulldozern anrücken, um die Bäume zu roden. Sie haben entdeckt, dass der herrliche Ausblick Gold wert ist, und wollen ihn zu Geld machen. Sie wollen das Rotwild-Refugium in eine Reihenhaussiedlung und das urwüchsige Schloss in eine geistlose Kongresshalle verwandeln.«
»Aber die weise Tante …«, murmelte Nell, bemüht, die Augen offen zu halten.
»Die weise Tante wird den Berghang beschützen«, sagte Stevie und zeichnete.
»Das wusste ich«, flüsterte Nell.
»Woher?«, ließ sich Jack vernehmen.
»Weil sie zu den guten Menschen gehört. Wie Tante Maddie. Und Stevies Tante Aida. Stimmt’s, Stevie?«
»Genau.«
»Wenn die Sonne aufgeht, gehen die Eulen schlafen, und andere Geschöpfe des Waldes verlassen ihre Nistplätze und Erdlöcher. Singvögel zwitschern im Gebüsch, Kaninchen hoppeln durch das nasse Gras. Die Kolibris suchen die roten Blüten der Kletterpflanzen auf, die an den Mauern des Schlosses wachsen. Sie ernähren sich von dem Nektar, wobei ihre Schwingen sich so schnell bewegen, dass man sie nicht mit bloßem Auge erkennen kann, sondern nur einen verschwommenen Farbklecks wahrnimmt. Die Sommertage gehen in die Sommernächte über. Der Mond ist zunächst eine schmale Sichel, dann nimmt er den ganzen Monat lang zu, bis er voll gerundet ist und wie heute Abend aus dem Meer aufsteigt …«
Als sie das letzte Bild zeichnete, von einem Vollmond, der auf das Schloss und den Abhang des Hügels schien, war Nell eingeschlafen. Stevie ließ den Skizzenblock neben ihrem Bett liegen und folgte Jack ins Wohnzimmer. Seine Nähe ließ sie erschauern. Sie spürte die Luft, die sanft über ihre Haut strich, und wagte es nicht, ihn anzuschauen.
»Das macht sie sonst nie.« Er drehte sich um, sah Stevie an. »Ich meine, auf der Stelle einschlafen. Normalerweise muss ich ihr vorher drei oder vier Bücher vorlesen, den Rücken rubbeln und einen Blick in den Schrank werfen, um ihr zu versichern, dass sich dort niemand versteckt. Wie hast du das geschafft?«
»Ich habe gar nichts gemacht. Das ist der Vollmond. Er besitzt magische Kräfte, falls du es nicht wissen solltest. Er bringt jedes Kind zum Einschlafen, und sei es noch so aufgekratzt.«
»Nein, das war deine Geschichte. Die hat sie beruhigt … die Geschichte und der Klang deiner Stimme.«
»Ich habe oft an Nell gedacht – an euch beide. Seit … Warst du mit ihr bei Dr. Galford?«
»Ja. Es hat gut getan, mit dir darüber zu sprechen – es hat mir sehr geholfen.«
»Das freut mich.«
»Um noch einmal auf deine Geschichte zurückzukommen – gibt es dieses Refugium wirklich? Wie hieß es gleich wieder – Lovecraft Hill?«
»Ja, das gibt es wirklich.«
»Und wo?«
»Nur wenige Meilen von hier entfernt. Meine Tante lebt dort.«
Jacks Augen weiteten sich. Er strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, blickte Stevie schweigend an, darauf wartend, dass sie weitersprach. Stevie sah ihn gebannt an. Sie nahm die Form seines Gesichtes wahr, die langen Haare, die ihm immer wieder in die Augen fielen. Als sie schwieg, fragte er: »Ist das eine wahre Geschichte?«
Stevie nickte, aus ihrer Trance gerissen. Der Vollmond hatte sich ihrer Sinne bemächtigt – das musste es sein. Die Mondfee erlaubte sich einen Scherz mit ihrem Herzen. Als sie in Jacks smaragdgrüne Augen blickte, fragte sie sich, ob sie jemals etwas Ähnliches empfunden hatte …
»Sie lebt in einem Schloss?«
»Nein, das musste sie schon vor Jahren
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