Wege im Sand
verlassen.« Der Gedanke an Tante Aida und ihre Zwangslage verscheuchte den Zauber. »Die Kosten für den Unterhalt waren zu hoch. Sie ist in ein kleines Cottage gezogen, das sich auf dem Gelände befindet. Aber sie liebt das Schloss, hält sich oft darin auf. Um dem Geist ihres verstorbenen Mannes nahe zu sein, sagt sie. Sie ist Malerin, und ich könnte schwören, dass sie das Schloss braucht, um sich ihre Inspirationen zu holen. Den Winter verbringt sie auf den Florida Keys; im Mai oder Juni kommt sie hierher und malt den ganzen Sommer. Sie kennt jede Vogelart, jeden Eulenruf … die Vorstellung, was aus diesem Refugium werden könnte, ist für mich unerträglich.«
»Die Bulldozer sind auch real?«
»Realer als je zuvor«, erwiderte Stevie mutlos. »Die Baufirmen haben ihr eine Menge Geld für das Anwesen geboten, aber sie hat sie immer abblitzen lassen. Doch diesen Sommer … sie macht sich Sorgen wegen der Steuern und weil das Schloss immer mehr verfällt. Sie befürchtet, jemand könnte sich klammheimlich einschleichen und dort verletzt werden. Jetzt ist ein weiterer Interessent an sie herangetreten …«
»Und sie zieht das Angebot ernsthaft in Betracht?«
»Scheint so. Obwohl es ihr das Herz brechen würde, wenn sie verkaufen müsste. So viel ist sicher.«
»Sie könnte das Anwesen doch einer gemeinnützigen Organisation überschreiben, als Schenkung – und sich das Nießbrauchrecht vorbehalten. Oder einen Immobilien-Trust einrichten!«
Stevie war eine solche Möglichkeit nie in den Sinn gekommen und Tante Aida vermutlich auch nicht. Sie waren Künstler, durch und durch, ohne lange zu überlegen oder sich dafür zu interessieren, was es mit der Finanz- oder Immobilienwelt auf sich hatte.
»Ginge das denn?«
»Absolut. Ich habe an einem Projekt auf Mount Desert Island in Maine mitgearbeitet, bei dem die Grundstücksbesitzer ihr Land dem Nationalpark als Schenkung überlassen hatten. Die Steinbrücken an sämtlichen Wegen, auf denen früher Pferdekutschen unterwegs waren, mussten erneuert werden, entsprechend dem ursprünglichen Architekturstil.«
»Klingt fantastisch. Ich denke … wir sollten uns einen Fachmann suchen, der das Schloss gleichermaßen restauriert.«
»Ich würde es mir gerne mal anschauen.«
»Im Ernst? Danke!« Stevie hatte ein Bild vor Augen, wie Jack die Schlossruine wiederaufbaute, mit einem Naturkundezentrum, das allen Bewohnern von Black Hall zugänglich war.
»Tante Aida und ich könnten dort Malkurse geben«, sagte sie laut.
»Wie bitte?«
»Oh, ich bin mit meinen Gedanken schon weit voraus. Ich hatte gerade die verrückte Idee, das Schloss in ein Naturkundezentrum zu verwandeln … mit Ausstellungen über heimische Vögel, Bäume, Tiere … dort könnten meine Tante und ich verschiedene Kurse anbieten … um den Leuten ein Gefühl für die Schöpfung und die Inspiration zu vermitteln, die wir aus der Natur beziehen. Und etwas von dem zurückgeben, was wir im Überfluss haben, verstehst du?«
»Klingt fantastisch. Die weise Tante gibt es also wirklich?« Jack trat einen Schritt näher.
»Und ob.« Stevie spürte, wie sie errötete, als sie ihn ansah. Sie konnte sich nicht länger beherrschen, sondern musste mit der Sprache herausrücken – das Thema war für sie zu wichtig. »Genau wie Nells Tante.«
Er kniff die Augen zusammen, wandte den Blick ab.
»Ich habe deinen Vorschlag beherzigt und Madeleine angerufen«, sagte Stevie.
»Das dachte ich mir schon.« Seine Miene verhärtete sich. Er schloss die Augen, und Stevie ging der Gedanke durch den Kopf, dass er sie damit nicht ausgrenzen, sondern den Blick vielmehr auf ein Problem tief in seinem Inneren richten wollte.
»Jack, Hubbard’s Point ist ein Teil deiner Lebensgeschichte, ob es dir passt oder nicht. Du hast Atlanta verlassen, weil dich dort alles schmerzhaft an Emma erinnerte, aber du bist ausgerechnet hierher gekommen, wo du auf Schritt und Tritt mit der Vergangenheit konfrontiert wirst.«
»Scheint so …«
»Deine Familie verbrachte hier früher die Sommermonate. Mit dir und Maddie. Deshalb bist du hier. Weil du den Bruch zwischen dir und deiner Schwester nicht erträgst.«
Jack antwortete nicht. Er war so still, dass Stevie die Grillen zirpen und den Wind durch die Bäume streichen hörte.
»Wie geht es ihr?«, fragte er nach geraumer Zeit.
»Sie ist … traurig«, antwortete Stevie sanft.
»Meinetwegen?«
»Weil das Leben ihr hart zugesetzt hat. Weil sie nicht nur Emma, sondern auch
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