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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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läutete. Er sah auf die Uhr: Vielleicht waren die beiden ausgegangen.
    Doch dann nahm eine Frau ab, und er hörte ihre Stimme.
    »Hallo?«, sagte seine Schwester.
    Jack schwieg. Stumm hielt er den Hörer in der Hand, wollte das Richtige sagen, das alles wieder gutmachte, alle Kränkungen und Verdächtigungen auslöschte. Er wollte nicht fortgehen, ohne auszuräumen, was zwischen ihnen stand.
    »Hallo?«, rief sie abermals.
    Jacks Gedanken überschlugen sich; er dachte an die letzte Begegnung, an die Wahrheit, die sie ihm mit ihrer Geschichte enthüllt hatte, und an die Wut, mit der er sich dagegen gesträubt hatte. Wenn er jetzt mit ihr sprach, würde er ihrer Version der Ereignisse die Tür zu seinem Leben öffnen, und das konnte er Nell nicht antun.
    »Wer ist denn da?«, fragte Madeleine.
    Jack war außerstande, zu antworten. Wortlos legte er auf.

16. Kapitel
    S tevie holte sie Punkt zwölf ab, nach Nells Freizeitprogramm, und sie fuhren unter dem Eisenbahnviadukt durch auf die Shore Road. Nell rutschte vor lauter Aufregung auf dem Rücksitz hin und her, deutete auf Wahrzeichen, an denen sie vorüberkamen, und redete ohne Unterlass. Jacks Anspannung war noch größer. Nell hatte endlich einmal die ganze Nacht durchgeschlafen, während er kein Auge zugetan und an die Decke gestarrt hatte, bemüht, sich über seine Gefühle klar zu werden.
    Sie hielten am Paradise Ice Cream, um zu Mittag zu essen; Stevie ließ sich eine zusätzliche Hummerrolle für ihre Tante einpacken. Sie trugen ihre Tabletts zu den Klapptischen hinter der weißen Eis- und Imbissbude, mit Blick auf die Marsch. Seemöwen umkreisten sie, auf der Lauer, ob jemand einen Brocken fallen ließ.
    Strahlender Sonnenschein verwandelte Flüsse und Buchten in Spiegel. Er zauberte Lichtreflexe in Stevies ebenholzfarbenes Haar; kurz geschnitten, ließ es die anmutige Linie des Halses frei, den Jack am Vorabend geküsst hatte. Er hätte gerne die Hand ausgestreckt und ihr die Ponyfransen aus den veilchenblauen Augen gestrichen, ihre Wangen berührt, die so zart waren wie Porzellan.
    Er hielt sich zurück, was ihm nicht leicht fiel. Vor allem, wenn sie ihm in die Augen sah, mit einem Blick, der ihm offenbarte, dass es ihr nicht anders erging.
    Nach dem Essen fuhren sie weiter, immer auf der Hauptstraße entlang. Dann bogen sie in einen schmalen Weg ein, der wieder unter den Eisenbahnschienen hindurchführte, und kamen schließlich an eine Seitenstraße, die sich einen steilen Hügel hinaufwand. Kurz darauf endete der Asphalt und ging in eine Schotterpiste über, so dass die Fahrt holperig wurde. Nell wurde durchgerüttelt und schrie auf – ihre Albträume drehten sich um die Vorstellung von der letzten Autofahrt ihrer Mutter auf einer gottverlassenen Landstraße. Jack streckte den Arm über die Rückenlehne, nahm ihre Hand und versicherte ihr, dass ihnen nichts Schlimmes widerfahren könne.
    »Wir sind gleich da.« Stevie spähte in den Rückspiegel. Nell war kreidebleich und umklammerte die Hand ihres Vaters. »Schau doch, Nell! Da ist schon das Pförtnerhaus!«
    Sie trat auf die Bremse und drückte auf die Hupe. Ein Mann und eine rothaarige Frau lehnten sich zur Tür hinaus, um zu winken. Der Mann strahlte, hob die linke Hand der Frau hoch in die Luft und deutete darauf.
    »Wer war das? Deine Tante Aida?«, fragte Nell.
    »Nein.« Stevie strahlte. »Nicht zu fassen, aber das war Henry, ihr Stiefsohn, mit seiner Freundin Doreen.«
    Plötzlich kam das Schloss in Sicht, und Nell hielt den Atem an. Sogar Jack verschlug es die Sprache. Es war imposant und bizarr, ein völlig unerwarteter Anblick in der lieblichen, ländlichen Idylle Connecticuts – es sah aus, als gehörte es in die Alpen, in den Schwarzwald, ein Märchenschloss, dem Größenwahn eines seiner Sinne nicht mehr mächtigen Landesfürsten entsprungen.
    »Das ist das Schloss«, sagte Stevie stolz, als sie aus dem Wagen stiegen. »Und da kommt meine Tante!«
    Eine hoch gewachsene elegante Frau in schwarzem Malerkittel und Jeans mit kunstvollen Rissen an den Knien, Samtslippern und einem Stirnband aus Goldlamé eilte aus dem kleinen Cottage neben dem Schloss herbei. Sie hatte eine hohe Stirn, die auf Intelligenz schließen ließ, und veilchenblaue Augen, mit Khol umrandet und durch blauen Lidschatten betont. Obwohl beträchtlich größer als Stevie, war die Ähnlichkeit verblüffend. Sie offenbarte sich in ihren Augen, ihrer stolzen Haltung und ihrer Schönheit.
    »Das ist meine Tante, Aida Von

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