Wehe Dem, Der Boeses Tut
in diesem Hotel wohne, Nelson, aber Sie wussten es offenbar. Daher nehme ich an, dass die übrige Familie es auch weiß. Ich vermute, dass der Kerl, den Sie zu meiner Überwachung eingestellt haben, Ihnen Bericht erstattet und Sie alle somit darüber informiert sind, wann ich mein Zimmer verlasse.« Sie sah ihn wütend an. »Überbringen Sie der Familie meine Botschaft: Auf diese Weise werden Sie mich nicht los. Ich mache keinen Rückzieher. Man sagt mir eine gewisse Hartnäckigkeit nach, oder meinetwegen nennen Sie es Trotz – ich lasse mich zu nichts zwingen.« Sie beugte sich über den Tisch zu ihm vor. »Merken Sie sich: Je heftiger Sie mich bedrängen, desto heftiger reagiere ich. Das da« – sie deutete auf die Drohbotschaften – »ist reine Zeitverschwendung, und das Päckchen sagt mir nur eines: dass irgendwer dringend psychiatrische Hilfe bräuchte.«
»Ich habe keine Ahnung, woher diese Briefe kommen«, beteuerte Nelson und blinzelte mehrmals rasch, als versuchte er, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. »Und das Päckchen – was war darin?«
»Glauben Sie mir, das möchten Sie gar nicht wissen. Sagen Sie Ihren Geschwistern einfach, sie sollen aufhören. Ich bin ohnehin nicht abgeneigt, zur Polizei und zur Presse zu gehen, und auf diese Art treiben sie mich dem Oregonian geradezu in die Arme. Ich weiß von einigen Klatschkolumnisten, die sich alle zehn Finger nach dieser Geschichte lecken würden, und von ein paar freiberuflichen Reportern, die Gott weiß was dafür gäben, in dieser Stadt eine Kontroverse vom Zaun brechen zu können. Gewisse Berichte über die Familie Danvers könnten einige Unruhe in die gesellschaftliche Ordnung von Portland bringen.« Sie trank einen tiefen Zug aus ihrem Glas. »Was meinen Sie?«
»Was ich meine, Adria«, sagte Nelson mit überraschend ruhiger und leiser Stimme, »ist, dass Sie nicht anders sind als all die anderen. Eine Betrügerin.«
»Und ich bin der Meinung, irgendjemand in Ihrer Familie hat Angst.« Sie tippte auf die Drohbotschaften. »Große Angst.«
»Sie wissen doch gar nicht, ob diese Briefe überhaupt von einem Familienmitglied stammen.«
»Von wem denn sonst?«
Sie faltete die Zettel zusammen und schob sie wieder in ihre Handtasche. Es widerstrebte ihr, dick aufzutragen, doch ihr blieb keine andere Wahl. Irgendwer in der Familie hatte beschlossen, mit harten Bandagen zu kämpfen. War es Nelson? Eigentlich glaubte sie es nicht, andererseits aber wusste sie nicht viel über ihn. Wenn Nelson tatsächlich ihr Halbbruder war, müsste er ihr in gewisser Weise leidtun, so hin- und hergerissen zwischen Designeranzug und Lederjacke, mit einem ungeliebten Beruf, den er nur ergriffen hatte, weil sein Vater es vor langer Zeit aus strategischen Gründen so entschieden hatte. Sie hegte den Verdacht, dass Nelson, obwohl der alte Witt schon lange tot und begraben war, seinem Vater – oder sich selbst – immer noch beweisen wollte, dass er im Grunde doch etwas wert war.
»Möchten Sie sonst noch etwas von mir wissen?«, fragte sie.
»Warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe?«
»Das kann ich nicht.«
»Es ist Ihr Kreuzzug, wie?«
»Ganz recht, Nelson.« Da das Gespräch zu nichts mehr führte, stand sie auf. »Hören Sie, es muss doch nicht zum Krieg kommen«, sagte sie.
»Doch, allerdings.« Er blickte zu ihr auf und seine Augen wirkten plötzlich leblos. »Falls Sie überhaupt etwas von unserer Familie verstehen, wissen Sie, dass der Krieg bereits erklärt ist.«
»Nun, Hauptsache, wir verstehen uns.« Sie wies auf die Bar. »Betrachten Sie sich als eingeladen. Ich habe Ihren Whiskey auf die Rechnung setzen lassen.«
Nelson blickte ihr nach, als sie energisch durch die gläserne Doppeltür hinausging. Er hatte alles verdorben. Dabei hatte er eigentlich gehofft, sich mit ihr anfreunden und ihr ein paar Informationen entlocken zu können. Doch dann hatte sie das Gespräch in die Hand genommen und er hatte am Ende kaum noch ein Wort herausgebracht. Meist begegnete er Frauen mit gelassener Gleichgültigkeit, doch gelegentlich traf er auf eine, die ihn aus der Ruhe brachte. Und Adria Nash, wer immer sie in Wahrheit sein mochte, hatte ihn ganz gehörig aus der Ruhe gebracht.
Er hatte das entsetzliche Gefühl, dass sie tatsächlich London war. Nicht nur wegen ihres Aussehens – ihr Auftreten zeugte von Arroganz und Machtbewusstsein. Er hatte eine schüchterne kleine Landpomeranze aus Montana erwartet, ein Mädchen, das ein paar Dollar absahnen und
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