Wehe Dem, Der Gnade Sucht
konnten ihn nicht aufheitern. Statt des wunderbaren Blumenstraußes auf dem Piano hätte genauso gut ein Büschel Stroh in der Vase stehen können. Lee betrachtete den grünen Teppich, den er so gern mochte. Sein Muster und die Farben erinnerten Lee sonst an einen Wald im Sonnenuntergang. Heute hätte dort genauso gut ein graues Stück PVC liegen können. Niedergeschlagen setzte er sich auf die Couch und stützte den Kopf in die Hände. Nein , dachte er, nicht heute – bitte nicht jetzt .
Das Telefon klingelte, und er fuhr nervös hoch. Rasch nahm er ab.
»Lee? Chuck hier.«
Er zögerte – sollte er seinem Freund sagen, dass er gerade einen Depressionsschub hatte? Oder das Gespräch über sich ergehen lassen? Im Moment konnte er sich ohnehin kaum auf etwas konzentrieren – alles um ihn herum versank in schwarzem Nebel. Er entschloss sich, mit Chuck zu sprechen.
»Hi Chuck«, sagte er. Ob man es seiner Stimme anhörte? »Was gibt es?«
»Neue Entwicklungen, Lee.«
»So schnell?«
»Wie es aussieht, gibt es ein weiteres Opfer. Kannst du wieder herkommen?«
Nein , wollte Lee schreien, nein, kann ich nicht . »Klar«, antwortete er stattdessen. »Ich brauche aber noch ein paar Minuten.«
»Okay, so schnell du kannst, ja?«
Lee legte auf. Dabei zitterte seine Hand so sehr, dass der Hörer gegen den Apparat klapperte. Er ging ins Bad und suchte im Schrank nach den Beruhigungsmitteln. Das würde noch ein langer Tag werden.
KAPITEL 9
Im U-Bahnhof angekommen, schwitzte Lee und zitterte unkontrollierbar. Die Dunkelheit hatte ihn eingeschlossen, und er bewegte sich wie ein ferngesteuerter Roboter. Wie in Trance steckte er seine Fahrkarte in den Schlitz, ging durch die Metalldrehtür und dann mit den anderen Fahrgästen die Treppe hinunter zur Bahn. Normalerweise war dieser Zustand auch so schon schlimm genug, heute allerdings spürte Lee einen sengenden seelischen Schmerz dabei, der alles Schöne und alle Hoffnung in ihm verbrannte, bis nur Verzweiflung übrig blieb. Sie erdrückte Lee, als läge er unter einem Felsen.
Schwankend ging er zum äußersten Ende des Bahnsteigs und starrte hinunter auf die Schienen. Eine Ratte lief über die Schwellen und verschwand in einem kleinen Mauerloch. Starben die Ratten eigentlich nicht, wenn sie bei einem solchen Spaziergang die Hochspannungsschiene überquerten? Ob es sehr weh tat, so zu sterben? Ob es lange dauerte, bis man tot war? Lees Magen zog sich zusammen, als er sich vorstellte, wie tausend Volt durch seinen Körper schossen.
Mühsam riss er sich von diesen Gedanken los und holte tief Luft. Er versuchte, sich Kathy vorzustellen, ihr Lächeln, doch das brachte ihn nur an den Rand der Tränen. Dieser Schub hatte ihn unvermutet überrumpelt. Während der letzten Monate hatte er sich psychisch langsam erholt. Zwar litt er noch immer unter Albträumen, sie wurden allerdings seltener.
Und jetzt das. Er fühlte sich wieder genauso schlecht wie ganz am Anfang seiner Erkrankung, die zum ersten Mal fünf Jahre nach dem Verschwinden seiner Schwester aufgetreten war und sich durch die Anschläge vom 11. September noch verschlimmert hatte. An den New Yorkern war dieser entsetzliche Tag nicht spurlos vorübergegangen, viele hatten danach solche Angstzustände, dass sie nicht mehr schlafen konnten. Einige kehrten der Stadt sogar für immer den Rücken. Andere wiederum packte ein heiliger Zorn. Lee hingegen hatte weder Angst, noch war er wütend – ihn ergriff eine bleischwere quälende Traurigkeit, die ihn wochenlang nicht mehr verließ.
Aus der Ferne hörte er die Bahn durch den dunklen Tunnel näher kommen. Was, wenn er nun sprang, wenn sie gerade einfuhr? Er konnte fast spüren, wie das harte Metall seine Haut traf … Ob er sofort tot wäre? Oder nur für den Rest seines Lebens verstümmelt? Egal, so würde er es auf keinen Fall machen. In seinen dunkelsten Stunden hatte er schon über einen Sprung vor den Zug nachgedacht, brachte es aber nicht fertig wegen des Lokführers. Der hätte dann für den Rest seines Lebens ein Trauma und einen Schuldkomplex.
Der Zug hielt, und die Türen öffneten sich. Lee stieg ein, setzte sich und wartete darauf, dass sein Beruhigungsmittel wirkte. Es konnte zwar den seelischen Schmerz nicht ganz vertreiben, aber immerhin Lees ungeheure Anspannung lösen.
An der West Fourth Street stieg er um, und die Tabletten taten nun wirklich ihre Wirkung. Er konnte zwar nicht mehr klar denken, und ihm war etwas schwindelig, aber zumindest rebellierte
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