Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Hände begannen schon wieder zu zittern. Schnell lief er in die Küche, nahm sich einen Schokoladen-Proteinshake und zwang sich, ihn auszutrinken. Der Shake schmeckte wie braune Pampe. Angewidert spülte Lee mit einem Glas Leitungswasser nach und ging wieder ins Wohnzimmer – zurück zum Klavier, das mit aufgeklapptem Deckel wartete. Auf dem schwarzen Lack spiegelte sich die Nachmittagssonne.
Lee setzte sich und vertiefte sich in eine Bach-Komposition. Keine langen Tonleiterübungen, kein Warmspielen, sondern gleich Bach. Die Schönheit der Melodie überwältigte Lee genauso wie beim ersten Mal, als er sie gehört hatte. Die Noten drehten sich und tanzten über die Seite des Notenblatts, seine Finger flogen über die Tasten. Erst als er das Ende des Stücks erreicht hatte, merkte Lee, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Danach setzte er sich in seinen grünen Polstersessel am Fenster und dachte an Ana Watkins. Sie hätte damals fast Erfolg bei ihm gehabt mit ihren Verführungskünsten. Das hatte er Chuck und Butts verschwiegen und auch sonst noch niemals jemandem gestanden. Aber sie hatte es auch wirklich klug angestellt. Ana hatte Lee genau durchschaut und wusste, wie er zu packen war. Also spielte sie das arme, hilflose Opfer, von den Männern in ihrem Leben ausgenutzt und weggeworfen. Ein zartes Persönchen, dem die Stürme des Lebens nichts als Unglück gebracht hatten. Dass Lee – von seiner Mutter – darauf gedrillt war, Frauen zu beschützen, hatte Ana natürlich längst erkannt. Angefangen hatte Fiona Campbell damit schon, bevor ihr Mann sie verließ. Danach jedoch erwartete sie von Lee, möglicherweise unbewusst, dass er alles wiedergutmachte, was Duncan Campbell ihr angetan hatte. Sein Sohn hatte beweisen sollen, dass nicht alle Männer herzlose Ungeheuer waren.
Und als Ana sich an jenem Abend zitternd, aber doch voller Verlangen an ihn drängte, zog er sie an sich, als könnte er gar nicht anders. Obwohl ihn sofort das schlechte Gewissen plagte, war er doch nicht in der Lage, sich gegen dieses Begehren zu wehren. Und so kam es an einem verregneten Freitagabend in einer dunklen Nebenstraße unter einer Laterne zu dieser leidenschaftlichen Umarmung. Doch nach dem ersten langen Kuss machte Lee sich los, weil er sich sofort schrecklich schämte. Dennoch gelang es ihm nur mit Mühe, sich zu beherrschen und nicht weiterzumachen.
Glücklicherweise kam ihm dann das Schicksal zu Hilfe, bevor er gegen seine eigenen Werte und seine Berufsehre verstieß. Ana bekam nämlich kurz darauf eine schwere Bronchitis und musste im Bett bleiben. So konnte sich Lees Leidenschaft abkühlen. Als es Ana dann wieder besser ging, bestand Lee darauf, dass sie einander ausschließlich im Krankenhaus zur Therapie trafen und auch das nur, wenn seine Sekretärin im Vorzimmer saß.
Kurz danach brach Ana die Therapie stillschweigend ab, und Lee war froh, dass sie ihn nicht beim Psychologenverband meldete. Vielleicht tat sie es nicht, weil sie ja den ersten Schritt gemacht hatte und ihm nicht die Schuld in die Schuhe schieben wollte. Offenbar besaß sie doch so etwas wie ein Gewissen. Seitdem hatte er jedenfalls nichts mehr von ihr gehört. Bis sie vor zwei Tagen bei ihm aufgetaucht war.
Und jetzt war sie tot. Das Einzige, was er noch für sie tun konnte, war, ihren Mörder zu finden.
Normalerweise brauchte er zu Fuß eine Viertelstunde bis in die Praxis von Dr. Williams in der East Twelfth Street – heute waren es gerade einmal zehn Minuten. Das Wartezimmer war leer. Lee setzte sich. Aus dem Behandlungsraum hörte er leise Stimmen. Die Praxis von Dr. Williams befand sich im fünften Stock eines Gebäudes mit vielen anderen ärztlichen Praxen. Sie teilte sich ihr Wartezimmer mit zwei weiteren Therapeuten. Links befand sich der Behandlungsraum eines Herrn mit Brille und schmalem Kinnbart, der Freuds Zwilling hätte sein können. Rechts arbeitete eine große schlanke Frau, ein intellektueller Typ mit silbergrauem Haar und einer großen runden Brille. Lee fand solche Frauen faszinierend: Ihnen schienen gesellschaftliche Schönheitsideale vollkommen gleich zu sein, und dennoch hatten sie ihren ganz eigenen Stil, der sie ungeheuer attraktiv machte.
Dr. Williams öffnete die Tür, und Lees Anspannung wuchs. Sein Mund wurde trocken, sein Hals war wie zugeschnürt. Eine Sekunde später verließ ein dünner junger Mann mit ernster Miene den Behandlungsraum. Er wandte den Blick ab, als er an Lee vorbeiging, und starrte auf den
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