Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Tür zur Wohnung nicht aufgebrochen war«, sagte Lee.
»Ja, richtig. Entweder hat der Täter ihm das Zeug irgendwo anders verabreicht, oder aber er hat es erst in der Wohnung getan. Da fehlen uns einige Teile des Puzzles.«
Sie fuhren durch Farmland in Richtung Lambertville.
»Dieser Teil von New Jersey ist wirklich schön«, stellte Butts fest, während draußen Felder und Wiesen mit Kühen und Pferden am Auto vorbeizogen. Das feuchte Gras funkelte im Sonnenlicht.
»Ja«, stimmte Lee zu. Aber er war zu sehr in Gedanken, um wirklich viel zu registrieren. Vor ihnen lag eine schwere Aufgabe. Sie mussten alles über den Tod dieser jungen Frau herausfinden, deren Leben viel zu früh geendet hatte.
Das Swan Hotel stammte aus dem 18. Jahrhundert, und wurde rechts und links von zwei einhundert Jahre jüngeren Häusern überragt. Es stand mitten im Zentrum von Lambertville, einer ehemaligen Industriestadt in einem Tal zwischen dem Delaware River im Westen und einer Bergkette im Osten. Lee kannte die Stadt gut. In seiner Jugend war Lambertville ein Abbild des wirtschaftlichen Niedergangs gewesen.
Direkt gegenüber vom Delaware lag in Pennsylvania der kleine Ort New Hope, den man per Auto oder über eine Brücke zu Fuß erreichen konnte. Mit seinem bunten schwul-lesbischen Viertel, den Boutiquen, Restaurants und kleinen Pensionen in historischen Gebäuden war New Hope eine echte Touristenattraktion. Lambertville, seine unscheinbare Cousine, beobachtete vom anderen Flussufer, wie New Hope erst hip wurde, dann überkandidelt und jetzt schon fast wieder passé war. Zwar kamen die Touristen noch immer in Scharen, aber vielen Leute, die in der Gegend wohnten, kam New Hope inzwischen wie ein künstlich herausgeputztes Museumsdorf vor. In ihren Augen hatte der Ort seinen ursprünglichen Charakter verloren.
Lambertville hingegen hatte sich langsam wieder aufgerappelt, allerdings ohne die eigene Verwandlung dabei so zu übertreiben wie sein Nachbar. Junge Paare kauften sich die hübschen alten Stadthäuser und renovierten sie. Es gab viele neue Geschäfte und Unternehmen, die plötzlich wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Stadt erholte sich nach und nach immer mehr von ihrer Zeit der Rezession, und das hässliche Entlein von einst mauserte sich zu einem schönen Schwan.
Das Swan Hotel war Teil dieser Renaissance von Lambertville. Lee parkte den gemieteten Wagen davor und stieg aus. Butts folgte ihm hinein. Da das Mittagsgeschäft erst in einer Stunde losging, herrschte im Moment noch wenig Betrieb. Der Maître d’hôtel führte Lee und Butts ins Atrium, damit sie dort auf den Geschäftsführer warten konnten, mit dem sie einen Termin vereinbart hatten.
Die beiden nahmen unter einer Glaskonstruktion Platz, die an ein Gewächshaus erinnerte. Innen befanden sich zahlreiche Kübelpflanzen, draußen rankte sich Efeu. Aus dem hinteren Teil des Raums war leises Wasserplätschern von einem Springbrunnen zu hören. Eine angenehme, beruhigende Atmosphäre.
»Hallo, ich bin Sayeed El Naga«, stellte sich der Geschäftsführer vor und schüttelte Lee und Butts die Hand. Nach seinem Akzent zu urteilen, stammte El Naga vielleicht aus England – ein kleiner Mann mit beginnender Glatze und Bauchansatz. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit dunklem Teint, große braune Augen, volle Lippen und sehr weiße Zähne. El Naga wirkte freundlich und wie jemand, zu dem man leicht Vertrauen fasste.
Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann sah er Lee ernst an. »Sie meinten, es geht um Ana. Reden wir nicht lange drum herum … was ist mit ihr?« Sein Ton klang liebenswürdig, aber bestimmt.
Lee erwiderte seinen Blick. El Naga wollte die Wahrheit wissen, und ganz gleich, wie man sie formulierte, sie blieb schockierend. »Ana ist tot. Wir vermuten einen Mord.«
El Naga sank zurück gegen die Stuhllehne, als hätte ihn ein Schuss getroffen. Einen Moment lang starrte er Lee nur mit offenem Mund an. »Wann … wie? Wer hat das getan? Wo haben Sie sie gefunden?«
»Sie wurde gestern im Fluss entdeckt«, antwortete Butts.
»Im Delaware?«
»Nein«, sagte Lee. »An der Stelle, wo der Harlem River in den Hudson fließt.«
»Was hat sie denn da gemacht?«
Sie war bei mir , hätte Lee gern gesagt, aber der genaue Todeszeitpunkt stand noch nicht fest. Das war bei Wasserleichen immer schwierig.
»Wir wissen es noch nicht«, antwortete Butts. »Ich würde Ihnen wirklich gern mehr darüber sagen, aber wir
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