Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Warum sagen Sie mir also nicht einfach, was Sie wirklich denken, statt mir immer eine Hintertür offenzuhalten?«
»Gut«, sagte Dr. Williams nach einem Moment des Zögerns. »Ich bin der Meinung, dass es wichtig für Sie ist, dieses Thema zu bearbeiten. Sie vermeiden es, weil …«
Den Satz konnte er auch allein beenden. Früher oder später musste er sich mit seinem Vater auseinandersetzen. Und er hatte Angst davor, dass der Zorn ihn dann überfallen würde wie ein wildes Tier.
KAPITEL 12
Nach der Therapiestunde bei Dr. Williams ging es Lee zumindest etwas besser – obwohl er immer noch sehr mitgenommen war. Er konnte schlafen und wachte früh am nächsten Morgen auf. Er war gleich mit Butts verabredet. Sie wollten sich ein Auto mieten und nach New Jersey fahren, um dort Anas Kollegen zu befragen.
Ana Watkins hatte keine Familie mehr. Ihre Mutter war vor Jahren verschwunden, und ihr Vater, wie sie Lee ja erzählt hatte, kürzlich gestorben. Da Ana seine Patientin gewesen war, wusste Lee, dass sie keine Geschwister gehabt hatte. Für eine Befragung kam nur noch ihr Freund infrage. Hoffentlich konnte der ihnen helfen, Licht in diese bizarren Mordfälle zu bringen.
Butts wartete schon bei der Autovermietung in Greenwich Village, als Lee eintraf, und eine halbe Stunde später, um neun Uhr dreißig, brausten sie über die Route 78 in Richtung Westen.
»Tut mir leid, dass ich Sie heute nicht mit meinem Wagen abholen konnte«, entschuldigte sich Butts. »Aber meine Frau fährt mittwochs immer Essen auf Rädern an Senioren aus. Ehrenamt und so. Sie ist gelernte Krankenschwester, hat aber aufgehört zu arbeiten, als die Kinder kamen. Braucht einfach das Gefühl, noch etwas Sinnvolles zu tun.«
»Verständlich«, sagte Lee. »Das geht uns wohl allen so.«
Die beiden fuhren eine Weile schweigend weiter. Der Motor brummte beruhigend. Auf den Regen der letzten Nacht folgte nun morgendlicher Sonnenschein. Zu seiner Erleichterung war Lee ohne depressive Symptome erwacht, obwohl er sich noch nicht wieder vollkommen stabil fühlte.
Als sie sich der Abfahrt zur Route 202 näherten, brach Butts schließlich das Schweigen: »Ich frage mich nur, warum wir uns mit der Krieger rumschlagen müssen.« Er starrte mit trüber Miene aus dem Fenster und malte Striche auf die beschlagene Scheibe.
»Ich weiß auch nicht, was genau da passiert ist, aber ich wette, dass es nicht Chucks Idee war.«
»Ja, das dachte ich mir schon«, bestätigte Butts. »Der kann sie genauso wenig ab wie ich. Und Sie, wie finden Sie unsere neue Kollegin?«
Lee überlegte einen Moment. »Ich konnte mir noch kein richtiges Bild machen, aber irgendwie erinnert sie mich an meine Mutter.«
Butts schüttelte sich. »Oh Gott, Sie Armer, was für eine schlimme Vorstellung!«
Lee lächelte. »Wenn man meine Mutter besser kennt, ist sie gar nicht so schrecklich.«
Butts kurbelte seine Sitzlehne nach hinten und reckte die Arme über den Kopf. »Bestimmt reden meine Kinder irgendwann genauso über mich. Kein schöner Gedanke. Wenn sie das nicht sogar jetzt schon tun.«
Damit war das Thema Krieger erst einmal abgeschlossen, aber Lee war sicher, dass sie nicht zum letzten Mal über sie gesprochen hatten. Ein paar Meilen nachdem sie auf die Route 202 abgefahren waren, klingelte Butts’ Handy. Er holte es aus der Jackentasche.
»Butts«, meldete er sich. Es folgte eine Pause, während er zuhörte. »Wirklich? Dann sieht die Sache ja auf einmal ganz anders aus. Danke, Russ, wichtige Information … ja, danke.«
Er klappte das Handy zusammen und ließ einen leisen Pfiff hören. »Das war Russ Kim von der Gerichtsmedizin. Die Proben von unseren ersten beiden Opfern sind fertig.«
Lee kannte Russel Kim – ein ruhiger Mann, der für seine genaue Arbeit bekannt war.
»Okay«, sagte er ungeduldig. »Und?«
Butts machte eine dramatische Pause. »K.-o.-Tropfen.«
»O Gott.« Die berüchtigte Droge, die manche Vergewaltiger ihren Opfern vor der Tat verabreichten. Diese Tropfen waren geschmacksneutral und konnten daher leicht in einen Drink geschüttet werden, ohne dass es auffiel.
»Ganz genau.«
Weder Lee noch Butts sprachen aus, was sie beide dachten – dass Anas Tests dasselbe Ergebnis zeigen würden. Lee versuchte, nicht darüber nachzudenken, was in den letzten Stunden vor ihrem Tod passiert sein musste. Er konnte nur hoffen, dass das Barbiturat ihre Qual erträglicher gemacht hatte.
»Das erklärt allerdings immer noch nicht, warum im Badewannen-Fall die
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