Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Fußboden. In einer Therapiepraxis brauchten Menschen viel Abstand. Leute, die sich im Wartezimmer eines Zahnarztes freundlich begrüßt und vielleicht unterhalten hätten, übersahen einander geflissentlich beim Psychologen.
Dr. Williams kam herein und winkte ihm zu. Sie war eine große, elegante Afroamerikanerin mit einem fein geschnittenen Gesicht. Bei ihrem Anblick hätte er am liebsten geweint vor Dankbarkeit, stattdessen nickte er nur und folgte ihr ins Therapiezimmer. Sie setzte sich auf ihren großen ergonomischen Ledersessel, den Rücken zum Fenster. Lee nahm ihr gegenüber in einem ähnlichen Sessel Platz.
Dr. Georgina Williams hatte die ruhigste Ausstrahlung, die er je bei einem Menschen erlebt hatte. Natürlich war es möglich, dass er sein Idealbild eines Therapeuten auf sie projizierte. Manchmal witzelten Kathy und er sogar darüber, dass er Dr. Williams ab und zu Yoda nannte. Trotzdem schien sie wirklich eine Ruhe und Intuition zu besitzen, die sie zu einer ausgezeichneten Psychologin machten. Sie bedrängte ihn nie mit Einsichten, für die er noch nicht bereit war, und besaß die schon unheimliche Fähigkeit, genau die richtige Frage im richtigen Moment zu stellen.
»Also«, begann Dr. Williams und musterte ihren Patienten. »Es geht Ihnen heute nicht gut, sagten Sie.«
»Nein, geht es nicht«, antwortete er. »Ich … ich hatte einen Depressionsschub.«
»Schlimm?«
»Ziemlich schlimm.«
»Und wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Besser, weil ich nun bei Ihnen bin. Hier geht es mir immer besser.«
»Sie fühlen sich hier sicher.«
»Ja.«
»Aber draußen in der Welt nicht«, stellte sie fest. »Und hat Ihr Schub mit diesen Gefühlen der Bedrohung zu tun?«
»Zum Teil.«
»Inwiefern?«
Lee erzählte von Ana, dem Schock, den er erlitten hatte, als er das Foto von ihrer Leiche gesehen hatte.
»Das ist natürlich auch sehr aufwühlend«, sagte Dr. Williams.
»Das war noch nicht alles«, sagte er, und seine Hände begannen zu schwitzen. »Jemand … jemand hat mich angerufen.«
Wie vieles am Anfang seiner Therapie hätte er das heute lieber verschwiegen, er wollte die alte Wunde nicht aufreißen, den Schmerz nicht wieder fühlen. Am liebsten wäre er einfach noch ein wenig still hier sitzen geblieben und hätte die entspannende Atmosphäre auf sich wirken lassen. Das war allerdings nicht Sinn einer Therapie. Und er wusste auch genau, weshalb er diesen inneren Widerstand spürte, sich zu offenbaren. Er holte tief Luft.
»Es ging um das rote Kleid. Eine Männerstimme – ich habe sie nicht erkannt. Er sagte, er wüsste über das rote Kleid Bescheid.«
»Aber ich dachte, das Detail hätte man damals zurückgehalten.«
»Das ist auch richtig.«
»Wer war dieser Mann also, und wie konnte er davon wissen?«
»Genau diese Fragen stelle ich mir auch. Der Anruf bringt alle Erinnerungen wieder zurück.«
»An das Verschwinden Ihrer Schwester?«
»Ja.« Er wünschte fast, sie hätte ›den Tod Ihrer Schwester‹ gesagt, er war sich sicher, dass Laura nicht mehr lebte.
»Und weiter?«
Lee wusste, worauf sie anspielte, aber er war noch nicht so weit.
»Ich kann nicht«, entschuldigte er sich. »Ich kann nicht darüber sprechen.«
»Okay.«
»Ach ja? Ist das wirklich okay?«
»Ich habe Sie noch nie gezwungen über etwas zu reden, wenn Sie nicht wollten.« Dr. Williams lehnte sich zurück. »Oder haben Sie vielleicht genau darauf gehofft? Dass ich es verlange und Ihnen damit die Entscheidung abnehme?«
Lee schaute aus dem Fenster ins Licht der Abendsonne, ein hellrosa Streifen am Horizont. Jetzt merkte man schon, dass es jeden Tag etwas früher dunkel wurde.
»Haben Sie mal darüber nachgedacht, ob Sie vielleicht an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden? Sie zeigen alle Symptome.«
Er lächelte müde. »Spielt der Name, den wir meinem Problem geben, denn eine Rolle? Ach, ich weiß es doch auch nicht! Wenn es mir so geht wie im Moment, schaffe ich es ja kaum, mir auch nur einen Kaffee zu machen.«
»Sind Sie denn bereit, über das Thema zu sprechen?«
»Sie glauben doch, dass es früher oder später ohnehin sein muss«, stellte er fest.
Sie zuckte leicht die Schultern. »Nicht unbedingt. Manchen Menschen scheint es auch gut zu gehen, wenn sie ihre schmerzhaften Erlebnisse nicht bearbeiten.«
»Okay«, sagte er und schaute sie an. »Wir haben alle beide diesen Beruf ergriffen, weil wir daran glauben, dass der therapeutische Prozess unseren Patienten wirklich helfen kann.
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