Wehe Dem, Der Gnade Sucht
stehen selbst noch ganz am Anfang.«
»Ana hat Wasser gehasst«, stellte El Naga fest. »Das hat sie mir mal erzählt«, fügte er entschuldigend hinzu.
»Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen«, sagte Lee sanft.
»Ja, ja – natürlich, fragen Sie!«
»Hatte sie irgendwelche Feinde?«, wollte Butts wissen. »Jemand, der ihr gegenüber offen ablehnend war oder einen Grund hatte, sich an ihr zu rächen?«
»Nein, niemand von dem ich wüsste. Sie war ein wenig merkwürdig, wissen Sie, hatte eine komische Art manchmal, aber an ihrer Arbeit war nichts auszusetzen, und sie hat sich mit den anderen Angestellten auch recht gut verstanden.«
»Und wie war das mit den Gästen?«, fragte Lee. »Gab es da jemanden, der sich ihr gegenüber verdächtig oder unangemessen verhalten hatte in letzter Zeit?«
El Naga zog die buschigen schwarzen Augenbrauen zusammen und kaute an seiner Unterlippe. »Lassen Sie mich nachdenken. Wir haben eine ziemlich gehobene Kundschaft«, sagte er abwehrend, als stünde das Hotel selbst unter Verdacht.
»Das weiß ich«, versicherte Lee ihm. »Ich bin in meiner Jugend öfter hier gewesen.«
El Nagas Gesicht hellte sich kurz auf. »Tatsächlich?«
»Ja, ich bin in der Nähe aufgewachsen.«
»Eine schöne Gegend, oder?«, fragte El Naga. »Mir gefällt es wirklich gut so auf dem Land. Allerdings kann ich mich einfach noch nicht an den ganzen Schnee im Winter gewöhnen. Da, wo ich herkomme, gibt es so ein Wetter nicht.«
»Ach, wo kommen Sie denn her?«, erkundigte sich Butts.
»Ägypten – Kairo. Laut, dreckig, schlimme Luftverschmutzung. Da ist es hier viel schöner – ich habe mir sogar richtige Schneestiefel zugelegt.«
»Gab es denn einen Gast, der sich Ana gegenüber auffällig benommen hat?«, kehrte Lee zum Thema zurück.
El Nagas Miene wurde wieder ernst. »Nein … oder … warten Sie mal. Doch, vor ungefähr einer Woche. Da hat Ana den Maître gebeten, diesem Gast einen Tisch zu geben, an dem jemand anderes bedient, falls er noch einmal kommen sollte.«
»Haben Sie den Mann gesehen?«, fragte Butts eifrig.
»Nein, leider nicht. An dem Tag war viel los, Sonntagsbrunch, und ich habe in der Küche geholfen. Einer der Köche hatte frei, und wir waren unterbesetzt. Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.«
»Trotzdem danke – vielleicht stellt sich das noch als wertvoller Hinweis heraus«, sagte Lee. Der Mann war so aufrichtig bemüht, dass Lee ihn trösten wollte.
»Ach, eines noch«, sagte Butts. »Haben Sie zufällig die Telefonnummer von Ana Watkins’ Freund? Wie hieß er doch gleich?« Zwar wusste er das schon, aber Butts erkundigte sich bei Befragungen ab und zu gern nach Informationen, die er bereits hatte. Nur um zu sehen, wie sein Gegenüber reagierte.
»Hm, Raymond, wenn ich mich nicht irre. Raymond Santiago, ja, so heißt er, glaube ich. Sie hat mir seine Nummer für Notfälle gegeben.«
»Persönlich kennen Sie ihn nicht?«, wollte Lee wissen.
»Nein. Er hat sie ein paarmal von der Arbeit abgeholt, aber ich weiß nicht, ob er dabei auch ins Restaurant gekommen ist. Er ist der Geschäftsführer vom Black Bass in Lumberville – bestimmt arbeitet er da heute.«
Danach sprachen Lee und Butts noch mit dem Rest des Personals vom Swan. Aber nur der Maître d’hôtel hatte den fraglichen Gast gesehen. Der Sonntagsbrunch war die anstrengendste Schicht, da war das kein Wunder.
Der Maître, ebenfalls arabischer Herkunft, hieß Assaf Hussein. Nach dem Mann befragt, sagte er: »Ich habe ihn leider nicht richtig zu Gesicht bekommen. Er saß mit dem Rücken zu mir. War ziemlich groß, aber schmal dabei. Deshalb habe ich mich auch gewundert, dass Ana Angst vor ihm hatte. Von hinten wirkte er jedenfalls nicht besonders einschüchternd.«
»Und seine Haare, Hautfarbe oder so?«, fragte Butts.
»Na ja, er war definitiv weiß«, sagte Hussein. »Seine Haare waren ganz glatt und eher hell – so ein Straßenköterblond. Soweit ich das beurteilen kann, nicht unbedingt jemand, der einem sofort auffällt. Ich wollte ihn mir noch genauer ansehen, als er ging, aber dann war er plötzlich weg, und ich habe das gar nicht mitbekommen. Es war eben sehr viel los bei uns.«
»Hat Ana den Mann je wieder erwähnt?«, fragte Lee.
»Nein. Sie hat danach in der Woche noch drei Mal gearbeitet, aber die Sache nicht wieder zur Sprache gebracht«, antwortete Hussein. »Ich würde Ihnen wirklich gern mehr sagen. Ich mochte Ana. Sie hatte Probleme mit sich,
Weitere Kostenlose Bücher