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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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einen bestimmten Blick, wissen Sie? Na ja, dann muss ich meine letzten Tage bis dahin eben noch ausnutzen. Danach gibt es wieder nur Brokkoli und Bohnen.«
    Lee lächelte und ließ den Motor an. Er war froh, dass er heute schon wieder mit Butts scherzen konnte.
    Dr. Martin Perkins hatte seine Praxis im Zentrum von Stockton – wenn man bei einer Kleinstadt überhaupt von einem Zentrum sprechen wollte. Es bestand aus nicht viel mehr als einem Spirituosengeschäft, einem Tante-Emma-Laden namens Enrico’s Market, einer Tankstelle und ein paar Restaurants.
    Die kleine Hauptstraße des Orts weckte bei Lee Erinnerungen an seine Schwester. Er dachte daran, wie oft er mit Laura über die kleine Brücke nach Pennsylvania hinübergelaufen war, sie am Kanal entlang nach New Hope spaziert waren oder im Delaware gebadet hatten. Sie hatten immer gern Besorgungen für ihre Mutter erledigt, bei Enrico eingekauft und waren dann um die Wette den Hügel hinauf nach Hause geradelt.
    Die Praxis von Dr. Perkins befand sich gegenüber der Tankstelle neben dem Einkaufsladen und dem Spirituosengeschäft. Das hübsche Gebäude stammte aus der Jahrhundertwende. Lee war als Junge Hunderte Male daran vorbeigegangen, damals allerdings war es ein reines Wohnhaus gewesen.
    Er parkte davor und ging gemeinsam mit Butts die Stufen zur breiten Veranda hinauf. Auf dem Schild unterhalb der Klingel stand Dr. Martin Perkins, L.C.S.W. – nur mit Anmeldung . L.C.S.W. bedeutete, dass Perkins ein staatlich geprüfter und wissenschaftlich ausgebildeter Sozialarbeiter war. Immerhin. Das bewies allerdings natürlich noch lange nicht, dass er kein Scharlatan war. Lee überlegte, worin Perkins seinen Doktor gemacht haben mochte, möglicherweise in Psychologie.
    Er betätigte die Klingel neben den Flügeltüren. Butts und er waren sich einig gewesen, dass es am besten war, Perkins zu überraschen, damit sie sehen konnten, wie er reagierte, wenn er unvorbereitet war.
    Eine Weile passierte nichts. Sie wollten sich gerade umdrehen und gehen, als sie von drinnen Schritte hörten und eine Männerstimme.
    »Einen Moment bitte!«
    Die langen Spitzenvorhänge vor den Fenstern der Flügeltüren flatterten. Dann wurde der Schlüssel im Schloss umgedreht, und die Türen flogen auf. Dahinter stand ein Mann von bemerkenswerter Erscheinung. Er war groß und dünn, um die fünfzig, hatte zurückgegeltes pechschwarzes Haar und einen kleinen spitzen Kinnbart. Sein dreiteiliger schwarzer Nadelstreifenanzug sah aus, als gehörte er in ein Theaterstück, das im 19. Jahrhundert spielte. An der Weste hing die Kette einer goldenen Taschenuhr. Der Mann trug Schuhe aus weichem schwarzem Leder, wie man sie aus historischen Filmen kannte. Er wirkte wie ein Zeitreisender.
    »Hallo, ich bin Dr. Perkins. Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Er sprach mit einem leicht snobistisch klingenden britischen Akzent.
    »Ich bin Lee Campbell, und dies ist Detective Leonard Butts von der New Yorker Polizei.«
    »Ein Detective? Liebe Güte, was verschafft mir denn die Ehre eines solchen Besuchs?«
    Perkins wirkte nahezu erfreut und klang richtig aufgeregt. Lee zögerte einen Moment, weil er fast erwartete, dass Perkins sich gleich für seinen merkwürdigen Aufzug entschuldigen und erklären würde, dass er in einer Theatergruppe mitspielte. Doch nichts dergleichen geschah. »Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für uns? Es geht um Ana Watkins«, sagte Lee schließlich.
    »Stimmt denn etwas nicht mit ihr?« Perkins wirkte sofort besorgt – was Lee gekünstelt vorkam.
    »Dürfen wir hereinkommen?«, bat Butts und versuchte erfolglos, Perkins über die Schulter zu schauen. Der Mann war einen Kopf größer als der Detective.
    »Oh … ja, natürlich«, antwortete Perkins und führte die beiden in einen großen und elegant eingerichteten Salon. Der Raum wurde von einem Flügel beherrscht, auf dem eine blaue Vase mit weißen Rosen stand. Perkins zeigte auf ein paar Sessel vor dem Marmorkamin. Butts nahm Platz und sah sich erstaunt um. Es kam wohl nicht oft vor, dass er Befragungen in einem herrschaftlichen Salon vornahm, vermutete Lee.
    »Wirklich nettes Haus«, sagte Butts.
    »Danke, allerdings gebührt die Ehre dafür meiner Schwester«, erwiderte Perkins mit einer weit ausholenden Geste der manikürten Hand. »Sie hat das ästhetische Gespür in der Familie. Ich wohne nur hier.« Er zog sich einen Stuhl zu den Sesseln und setzte sich. Jede seiner Bewegungen wirkte wie einstudiert. Er sah

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