Wehe Dem, Der Gnade Sucht
hilft, ihre Opfer zu entpersonalisieren.«
»Und man kann sie schwerer schnappen dadurch«, sagte Butts.
»Stimmt«, bestätigte Lee. »Allerdings hatten Serienmörder wie Gacy und Dahmer durchaus gewissen Kontakt zu ihren Opfern, bevor sie sie umbrachten. Also sollten wir wohl davon ausgehen, dass auch unser Täter seine Opfer irgendwie kannte.«
»Den Mann in der Badewanne ja wohl auf jeden Fall, oder?«, fragte Krieger. »Es gab immerhin keinerlei Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen in die Wohnung.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, sagte Lee. »Der springende Punkt dürfte das Motiv sein. Wenn wir das herausgefunden haben, begreifen wir auch, was die Opfer verbindet. Und ich bin überzeugt davon, dass es eine solche Verbindung gibt. Wir haben sie nur noch nicht entdeckt.«
»Vielleicht ist der Täter doch ihre einzige Gemeinsamkeit«, schlug Butts vor.
»Hat er seine Opfer möglicherweise zufällig ausgewählt?«, fragte Chuck.
»Das ist sehr unwahrscheinlich.« Lee schüttelte den Kopf. »Schon wegen der Abschiedsbriefe. Der Mörder hatte Kontakt zu seinen Opfern – vielleicht auch nur in seiner Phantasie.«
»Okay, dann sollten wir noch weitere Leute aus dem Umfeld der anderen beiden Toten befragen«, sagte Chuck. »Detective Butts hat damit schon angefangen, aber wir müssen unsere Netze weiter auswerfen.«
KAPITEL 18
Als Lee wieder zu Hause war, ging er als Erstes in die Küche, und mixte einen Martini in einem silbernen Cocktailshaker, der früher seinem Vater gehört hatte. Dann schüttete er den Inhalt in ein Glas, fügte eine Olive hinzu und nahm den ersten Schluck. Der Geschmack des Gins kam angenehm scharf durch, es war fast wie Medizin. Lee trank noch ein paar Schlucke und ging dann wieder ins Wohnzimmer.
Manhattan im Zwielicht. Lee schaute mit dem Martini in der Hand aus dem Fenster zur Straße. Er dachte wieder an Laura. Seine Mutter erwähnte sie kaum noch, und Kylie war zu jung gewesen, als sie verschwand, um sich überhaupt an sie zu erinnern. Als Lee Profiler geworden war, hatte er sich geschworen, dass er Lauras Mörder finden würde, bisher allerdings war ihm das nicht gelungen.
Das Telefon klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken.
Er griff zum Hörer.
»Hallo?«
»Lee?«, fragte eine tiefe sonore Stimme. Lee erkannte sie sofort.
»Hi, Diesel. Wie geht’s?«
»Ich wüsste lieber, wie es dir geht, Lee.«
»Ganz okay.«
»Klingt eher nicht so.«
Lee lächelte, obwohl Diesels Stimme eine Menge traurige Erinnerungen zurückbrachte. Sie hatten sich durch Lees verstorbenen Freund Eddie Pepitone kennengelernt, der bei Lees letztem großen Fall ermordet worden war. Er vermisste Eddie, und wusste, dass es Diesel genauso ging.
»Was macht Rhino?«, erkundigte sich Lee und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen.
»Oh, der ist ganz ekelhaft selbstverliebt. Er hat es diesen Monat geschafft, fünf Pfund abzunehmen. Ist kaum noch auszuhalten mit ihm.«
Diesel und Rhino, eigentlich John Rhinehardt Jr., waren das seltsamste Paar, dem Lee je begegnet war. Diesel war ein veritabler Riese mit glänzender dunkler Haut, Rhino hingegen winzig, muskulös und blass wie ein Geist. Lee war froh, dass er mit den beiden auch nach Eddies Tod noch immer wenigstens sporadisch Kontakt hielt. Sie waren zwei wirklich anständige Menschen und außerdem das Einzige, was ihn noch mit Eddie verband.
»Wohnt ihr eigentlich noch immer in Bellevue?«, fragte Lee.
»Tatsächlich bin ich gerade befördert worden. Ich bin jetzt Pflegedienstleitung.«
»Herzlichen Glückwunsch – das ist ja super!«
»Das wäre es bestimmt, wenn ich nicht mit John Rhinehardt Jr. zusammenleben würde.«
»Weil du jetzt sein Chef bist?«
»Ja, so ungefähr«, sagte Diesel. »Ich soll dich übrigens von ihm grüßen. Aber, hör mal, eigentlich rufe ich an, weil ich wissen wollte, ob du in diesen merkwürdigen Mordfällen ermittelst.«
Lee war nicht sicher, wie er auf die Frage reagieren sollte. Dass er nun zum Ermittlungsteam gehörte, war eigentlich kein Geheimnis, allerdings war es auch nichts, was das NYPD unbedingt an die große Glocke gehängt hätte. Glücklicherweise machte Diesel eine Antwort unnötig.
»Dein Zögern sagt alles«, stellte der fest, dann räusperte er sich und fügte nach einer Pause hinzu: »Ich weiß, Eddie hätte gewollt …« Diesel stockte. »Ach, wer weiß, was Eddie gewollte hätte. Vielleicht bilde ich mir nur gern ein, ich wüsste es.«
»Ja«, sagte Lee. »Verstehe ich.«
»Auf
Weitere Kostenlose Bücher