Wehe Dem, Der Gnade Sucht
wollte sie?«, fragte Butts. »Ihre?«
Lee wurde rot.
»Aha, also war sie verknallt in Sie«, stellte Butts fest.
»Es ging ihr dabei sicher nicht nur um mich«, sagte Lee. »Sondern auch um ihren Freund, die Kollegen – falls die ganze Geschichte nicht stimmt, hat sie sie bestimmt jedem aufgetischt. Darauf könnte ich wetten.« Lee erinnerte sich wieder an Anas Gesichtsausdruck an jenem Abend bei ihm zu Hause. »Trotzdem hatte sie Angst – ob sie sich einen Teil der Geschichte ausgedacht hat oder nicht, sie glaubte auf jeden Fall wirklich, dass ihr Leben in Gefahr war.«
»Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit jedenfalls hatte sie mit unserem Täter gemeinsam«, sagte Krieger. »Dem geht es ebenfalls nicht nur darum, seine Opfer zu bestrafen. Er will auch, dass wir über seine Taten Bescheid wissen.«
Lee schaute sie erstaunt an, weil er ihr so viel Einfühlungsvermögen gar nicht zugetraut hätte. Obwohl sie von Profiling nichts hielt, schien sie die entsprechenden Techniken dennoch instinktiv selbst anzuwenden.
»Ganz genau«, sagte er schließlich. »Er glaubt, er bekommt nur dann Aufmerksamkeit, wenn er die gesellschaftlichen Regeln bricht. Und das auf immer krassere Art.«
»Er zeigt also alle Merkmale eines Soziopathen«, stellte Chuck fest.
»Vollkommen richtig. Um aber auf das Tagebuch zurückzukommen – es kann durchaus sein, dass der Eintrag sich auf Anas Therapeuten bezieht. Vielleicht wollte sie ihn mit irgendetwas konfrontieren.«
»Oder aber sie meinte ihren Chef im Swan«, ergänzte Butts.
»Durchaus möglich«, sagte Lee.
Krieger bat, sich noch einmal den Tagebucheintrag ansehen zu dürfen. »Das hat sie sich nicht ausgedacht«, stellte sie dann fest. »Sie hatte wirklich Angst.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Chuck.
»Andernfalls hätte sie das Ganze viel mehr ausgeschmückt. Wenn Menschen lügen, fügen sie ihren Geschichten völlig unnötige Details hin–«
»Das ist wirklich wahr!«, fiel ihr Butts ins Wort. »Daran erkennt man jedes Mal, dass ein Befragter lügt – zu viele Details!«
Krieger nickte Butts zu, sah dann wieder zu Chuck und Lee und fuhr fort. »Dieser Eintrag ist viel zu kurz – es klingt überhaupt nicht so, als hätte sie das geschrieben, damit jemand es liest, sondern eher als würde sie mit sich selbst sprechen. Achten Sie auf die Formulierung: ›Muss ihn zur Rede stellen.‹ Da steht nicht ›Ich muss ihn zur Rede stellen.‹ Sie lässt das Subjekt aus, weil sie damit sich selbst meint.«
Butts vergaß offenbar für einen Moment, dass er Krieger nicht ausstehen konnte. »Mann, Sie sind ja ein Genie!«
Der Anflug eines Lächelns huschte über Kriegers Gesicht. »Bleibt allerdings immer noch die Frage, wer das Objekt des Satzes ist.«
In diesem Moment klopfte es verhalten an die Tür.
»Ja!«, rief Chuck.
Sergeant Ruggles steckte den Kopf herein. Mit seinem glatt rasierten, glänzenden Gesicht wirkte er wie ein Schuljunge.
»Verzeihung, Sir«, entschuldigte er sich, »aber Staatsanwalt Connelly ist am Telefon.«
Chuck verdrehte die Augen. »Ich komme. Machen Sie bitte hier ohne mich weiter«, sagte er und ging an Ruggles vorbei, der Elena Krieger fasziniert anstarrte.
»Gibt es sonst noch etwas, Sergeant?«, fragte sie und erwiderte seinen Blick.
»Nein, nein«, versicherte Ruggles, starrte aber weiter, als hätte er das Medusenhaupt erblickt und wäre versteinert.
Butts rettete ihn. »Kuchen?«, fragte er und hielt dem Sergeant die Papiertüte hin.
»Ähm, nein danke.« Ruggles schloss hastig die Tür.
»Schön«, sagte Krieger. »Wo waren wir gerade?«
KAPITEL 21
Er hatte den ganzen Tag unten im Tal verbracht und zwischen den Weiden am Ufer gespielt, nur damit er nicht nach Hause musste zu seinem Vater. Der hatte meistens schrecklich schlechte Laune. Caleb versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen und meistens gelang ihm das auch. Doch besonders wenn sein Vater etwas getrunken hatte, wollte er sich unterhalten. Caleb hasste das, weil er dann neben ihm am Küchentisch sitzen und sich seine Vorträge über Frauen anhören musste. Dass sie böse waren und man keiner vertrauen durfte. Alles Teufelinnen, die einen Mann betrogen, sobald er ihnen kurz den Rücken zudrehte.
Caleb nickte dann immer und tat, als höre er zu, aber sein Vater wiederholte ständig und immer wieder dasselbe, bis Caleb Kopfschmerzen davon bekam. Also versuchte er, sich lieber auf das Quaken der Frösche draußen im Teich und das Rascheln der Mäuse oben
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