Wehe Dem, Der Gnade Sucht
vielleicht dem Täter als Kind etwas Derartiges passiert?«, überlegte Krieger. Sie schien jetzt ganz bei der Sache.
»Was auch immer ihm passiert sein mag«, sagte Lee, »hat ihn mit einer solchen Wut zurückgelassen, dass er nur noch töten will. Immer und immer wieder.« Er sah sich noch einmal das Bild des armen Joe an. »Und was ist mit dem Abschiedsbrief?«
Chuck reichte ihm die Fotokopie der handgeschriebenen Nachricht.
Wo hab ich nur meine Augen, ich böser, böser Junge.
»Dieser Komiker.« Butts klang angewidert.
»Wir müssen undercover ermitteln«, sagte Krieger zu Chuck.
Er runzelte die Stirn und kratzte sich am Nacken. »Ich weiß nicht, ist das nicht etwas gefährlich, besonders …«
»Besonders für eine Frau?«, fragte Krieger.
»Besonders weil es so viele Morde in so kurzer Zeit gab. Entweder haben wir es hier mit einem Täter zu tun, der einen hohen Wiederholungsdruck hat, oder aber er ist völlig verzweifelt.«
»Ich habe keine Angst«, erklärte Krieger.
»Mag ja sein«, sagte Chuck, »aber …«
Krieger drehte sich um und wandte sich an Lee. »Sind Sie auch seiner Meinung?«
»Ich fürchte schon«, antwortete Lee. »Einige Serienkiller warten Wochen oder Monate, bis sie sich das nächste Opfer suchen. Aber unser Täter schlägt ganz schnell immer wieder zu. Das bedeutet entweder, dass er sich ganz sicher ist, nicht geschnappt zu werden, oder aber sein Hass steigert sich. Auf jeden Fall ist er sehr gefährlich.«
Jetzt wandte sich Krieger an Butts, der ganz entspannt noch einen Donut mit Cremefüllung verdrückte. »Und was meinen Sie?«
Butts hielt den Donut hoch und bewunderte ihn eingehend, als wäre er ein kostbares Juwel.
»Wenn Sie unbedingt wollen, bitte sehr.«
Krieger sah die beiden anderen an. »Also?«
Chuck schüttelte den Kopf. »Mir gefällt die Idee gar nicht.«
»Aber das gehört zu meiner Arbeit. Ich wurde für Undercoverermittlungen ausgebildet«, erklärte Krieger.
»Ich dachte, Sie wären forensische Linguistin«, sagte Butts.
»Darin bin ich ebenfalls ausgebildet.«
»Okay«, willigte Chuck widerstrebend ein. »Aber Sie nehmen immer Ihr Handy mit und haben einen Kollegen in Zivil dabei, der Sie nicht aus den Augen lässt. Gehen Sie zu Sergeant Ruggles, er wird alles Notwendige in die Wege leiten.«
Krieger lächelte breit und zufrieden. Es war das erste Mal, dass Lee sie wirklich lächeln sah. Er hoffte nur, dass es nicht auch das letzte Mal war.
KAPITEL 35
»Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.« Caleb betrat das abgedunkelte Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er zog das Rollo vor dem Fenster etwas hoch, damit Licht hereinkam. »Warum sitzt du denn hier im Dunkeln? Es ist so schön draußen – du solltest öfter in den Garten gehen.«
Sein Vater reagierte nicht. Er blieb auf dem Bett liegen, nur seine Hände zuckten. Caleb kam näher und zeigte ihm die beiden neuen Schätze. Sie waren noch feucht. Caleb zog ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und trocknete sie vorsichtig ab.
»Sind sie nicht schön?« Er beugte sich über seinen Vater, damit er sie besser sehen konnte.
Sein Vater antwortete nicht, aber daran hatte Caleb sich gewöhnt. Papa war eben sehr schweigsam geworden mit den Jahren. Caleb war das ganz lieb – als sein Vater noch geredet hatte, war alles, was er sagte, so hart und kalt gewesen. Jedes Wort hatte in Calebs Ohren geschmerzt. Nein, so war das schon besser, es machte alles einfacher. Jetzt konnte Caleb sich ohne Probleme um seinen Vater kümmern. Caleb brachte ihm immer alles, was er brauchte, und er wusch ihn auch, wenn er sich nass gemacht hatte. Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Es war das Mindeste, was er für ihn tun konnte, nach allem was er seinem Vater zu verdanken hatte. Er hatte ihn ganz allein großgezogen und aufgepasst, dass Caleb sich von den bösen Frauen fernhielt. Es war wirklich kein Opfer, sich um seinen Vater zu kümmern. Das war die Pflicht eines Sohnes, wenn der Vater alt und schwach wurde.
Caleb ging nach nebenan und ließ die Augen in ein Glas mit Formaldehyd gleiten. Das erste Paar von einem Menschen in seiner Sammlung, sehr aufregend! Aber die anderen waren auch hübsch. So viele verschiedene Farbtöne von Braun bis Blau. Ein Paar war haselnussfarben, so hatte seine Mutter es immer genannt. Die stammten von dem Golden Retriever von nebenan. Der hatte Caleb bedauerlicherweise nachts immer mit seinem Bellen geweckt. Als das Tier dann plötzlich verschwunden war, hatte
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