Wehe Dem, Der Gnade Sucht
wegschließen. Eine andere Lösung gibt es nicht.«
Wie oft hatte er über diese Dinge schon nachgedacht, aber das wollte er Kathy nicht sagen. Lee und Kathy schwiegen eine Weile.
»Was ist der Mensch nur für eine sonderbare Kreatur?«, fragte Kathy schließlich und strich mit dem Finger über den Rand der Espressotasse.
»Wir sind Geschöpfe der Extreme«, antwortete Lee. »Zu allem fähig – zu allem Guten und zu allem Bösen.«
»Ist das nicht lediglich unsere egozentrische Sichtweise auf das menschliche Wesen?«, überlegte Kathy. »Kann man uns wirklich über Auschwitz und die Sixtinische Kapelle definieren? Oder sind wir einfach nur Tiere mit zwei beweglichen Daumen und aufrechtem Gang?«
Lee lächelte. »Du bist die Naturwissenschaftlerin. Vergiss unser enormes Gehirn nicht – und unsere Fähigkeit zu sprechen. Wenn Orang-Utans dazu fähig wären, würden sie bestimmt auch Städte bauen.«
»Und Konzentrationslager?«
»Wenn ich Naturdokumentationen glauben darf, gibt es sogar Delfine, die kriminelles Verhalten zeigen.«
»Klugscheißer.« Sie lachte.
»Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich Ana im Stich gelassen habe«, sagte er unvermittelt.
»Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Na ja, wenn sie irgendein anderer Patient von mir gewesen wäre – irgendjemand anderes –, hätte ich die Sache viel ernster genommen. Hätte ich das bei ihr auch gemacht, wäre sie nicht tot.«
Kathy runzelte die Stirn. »Wo war denn der Unterschied zwischen ihr und einem anderen Patienten?«
Plötzlich wollte Lee ihr einfach alles gestehen – er hasste es, Geheimnisse vor Kathy zu haben.
»Was ist denn?«, fragte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte.
Lee rieb sich die Augen und wich ihrem Blick aus. »Ich habe dir nicht alles über Ana und mich gesagt.« Dann erzählte er Kathy von Anas Versuch, ihn zu verführen. Dabei ließ er nichts aus, auch nicht, dass Ana damit beinahe Erfolg gehabt hätte und es zumindest zu einem leidenschaftlichen Kuss gekommen war.
Kathy schwieg. Ihre Miene war auf einmal wie versteinert.
»Okay«, sagte sie nach einer Weile. »Vielleicht hast du wirklich recht und hättest bei jemand anderem etwas unternommen. Allerdings wüsste ich nicht, was du konkret hättest tun sollen.«
Sie schaute weg. Das Gespräch war ihr sichtlich unangenehm. Und wenn sie es auch zu verbergen suchte, hörte man ihrem Ton an, dass etwas nicht stimmte.
»Hat das … das mit Ana … Auswirkungen auf unsere Beziehung?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie zu schnell.
»Ich hatte gerade erst angefangen, als Therapeut zu arbeiten. Ich war naiv und auf eine solche Situation nicht vorbereitet …«
»Du musst mir das nicht erklären«, sagte Kathy und sah ihn dabei immer noch nicht an.
»Lass mich das doch erklären. Ich schulde dir …«
»Du schuldest mir gar nichts«, widersprach Kathy, während sie auf ihren Kuchen starrte.
»Bitte, Kathy, ich möchte doch nur, dass du verstehst …«
»Können wir bitte das Thema wechseln?«
»Aber ich …«
»Kapier das jetzt bitte, Lee«, unterbrach sie ihn und schaute ihm in die Augen. »Das ist alles sehr lange her. Wir können daran beide nichts mehr ändern – und an dem, was ich gerade empfinde, ebenfalls nicht. Ich weiß, dass ich mich kindisch und dumm aufführe, und ich bin auch nicht stolz darauf, aber im Moment ist es einfach so. Okay? Also, anderes Thema.«
Lee sah ihren gequälten Gesichtsausdruck. Sein schlechtes Gewissen machte sich breit. Er hatte sie verletzt.
»Gut«, sagte er. »Sprechen wir nicht mehr darüber.«
Sie versuchten noch krampfhaft, sich normal zu unterhalten, aber die Stimmung zwischen ihnen war zu angespannt. Kathy konnte ihre Gefühle nicht verbergen, und das machte es nicht leichter. Schließlich trank sie ihren Espresso in einem Zug aus und stand auf.
»Ich bin müde. Die Woche war anstrengend.«
Lee bekam Herzklopfen. »Willst du mit zu mir kommen?«
»Nein, ich glaube, ich bleibe heute lieber bei Arlene, wenn dir das nichts ausmacht.«
Arlene war eine Freundin von Kathy, die oft auf Reisen war, und deren Wohnung in New York sie dann nutzen konnte. Die beiden Frauen kannten sich noch aus der Schule.
»Okay«, sagte er knapp.
Kathy biss sich auf die Unterlippe. »Gib mir etwas Zeit.«
»Ja, ja. Klar.«
»Ich rufe dich morgen an«, versprach sie. Dann nahm sie ihre Aktentasche und ging. Lee schaute ihr hinterher, und hoffte, sie würde sich nach ihm umdrehen, bevor sie die Treppe
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