Wehe Dem, Der Gnade Sucht
sie ihn sah, dann wurde sie wieder ernst. Lee beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, spürte aber, wie sie sich verkrampfte.
Er nahm ihr gegenüber Platz und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Sie war über und über mit Kritzeleien bedeckt, die andere Gäste dort hineingeritzt hatten. Direkt vor ihm stand in Großbuchstaben Kilroy was here .
»Was trinkst du?« Er schaute auf das Glas vor Kathy.
»Scotch«, antwortete sie und wich seinem Blick aus.
»Möchtest du noch einen?«
Sie nickte und leerte ihr Glas in einem einzigen Zug. Das sieht nicht gut aus, dachte Lee – normalerweise machte Kathy sich nicht viel aus Alkohol.
»Okay. Ich bin gleich wieder da.«
Er schlängelte sich durch die Masse der anderen Gäste, die ihren Feierabend hier verbrachten. Männer mit offenen Krawatten und Sakkos über der Schulter, Frauen, die an der Bar ihre Pumps ausgezogen hatten. Alle waren in Feierlaune. Obwohl es Montag war, platzte der Laden aus allen Nähten. Wellen von Gelächter brandeten in den unterschiedlichen Grüppchen auf und verebbten wieder; die Menschen flirteten und erzählten sich ihre neuesten Geschichten.
Lee bestellte zwei Scotch und bahnte sich vorsichtig seinen Weg zurück zum Tisch. Kathy nahm ihr Glas, trank einen tiefen Schluck und stellte es ab. Sie sah auf ihre Hände, die an einem Strohhalm herumfingerten, in den sie feste Knoten gemacht hatte.
»Okay«, sagte Lee. Er spürte, dass er Angst hatte. »Worüber willst du mit mir reden?«
»Das ist gar nicht so einfach«, sagte sie und sah weg.
»Es hinauszuzögern macht es nur noch schlimmer – fang einfach an.«
»Okay.« Kathy schaute ihn an.
Was sie dann sagte, traf ihn wie ein Schlag in den Magen.
»Wir sollten uns eine Zeit lang nicht sehen.«
»In Ordnung«, entgegnete er ruhig, obwohl er lieber geschrien hätte. »Warum konntest du mir das nicht am Telefon sagen?«
»Weil man so was nicht am Telefon macht.«
»Okay.«
»Ich … ich kann im Moment sehr schlecht schlafen.«
»Geht mir genauso, aber wir wissen doch beide, dass es Zeit braucht …«
Sie hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.
»Bitte lass mich ausreden, ja?«
Er nickte kläglich und trank einen großen Schluck Scotch. Der Alkohol brannte in seiner Kehle. Noch ein paar Drinks, und er hätte seinen Schmerz vielleicht ertränkt.
Kathy musterte ihre Hände. Sie zitterten. »Wenn wir zusammen sind, wirkst du in letzter Zeit, als wärst du nicht wirklich … anwesend.«
»Ach ja?«, fragte er gespielt gleichmütig und wünschte, er wäre ein besserer Schauspieler.
»Ich weiß, dass du dir diesen Fall sehr zu Herzen nimmst.«
»Ich nehme mir alle Fälle zu Herzen«, entgegnete er.
»Das habe ich mir auch gesagt, aber das macht es nicht besser. Nicht für mich. Und das Schlimmste daran ist, dass ich mich auch fühle, als wäre ich nicht wirklich da. Meine Arbeit, die Identifizierung der Leichen …« Kathy presste die Lippen zusammen und schaute weg. »Nach Feierabend will ich mich nur noch im Bett verkriechen.« Ihr Blick kehrte zum Tisch zurück, aber sie sah nicht Lee, sondern ihre Hände an. Die Haut um ihre Fingernägel war weiß, so fest umklammerte sie ihr Glas.
»Das ist nicht alles«, fuhr sie fort. »Aber ich habe das Gefühl, dass ich mit dir nicht darüber reden kann, wegen deiner … deiner …«
»Meiner Depression.« Er wusste, dass sie das Wort nicht gerne aussprach.
»Ja. Ich will nicht der Auslöser für einen Rückfall sein … ich weiß, es hört sich schäbig an, aber damit möchte ich mich jetzt im Moment nicht belasten. Ich habe genug mit meinem Job zu tun.«
»Ich verstehe«, sagte er.
»Nein«, widersprach sie. »Ich glaube nicht, dass du das tust. Ich bin nicht wie du – ich kann mich nicht so gut ausdrücken. Ich bin Naturwissenschaftlerin, das liegt uns nicht. Momentan habe ich keine Zeit für eine Beziehung – jedenfalls nicht mit dir.«
Beim letzten Teil des Satzes stockte ihm der Atem. Jedenfalls nicht mit dir.
»Schon klar«, sagte er mit gepresster Stimme.
»Sei nicht böse«, bat sie.
»Was zum Henker soll ich sonst sein? Was erwartest du denn?«
»Ich sage ja nicht, dass es endgültig ist. Ich brauche nur etwas Zeit …«
»Meinetwegen«, knurrte er. »Ich dachte, dass es zwischen uns etwas Besonderes gibt, aber da habe ich mich wohl geirrt.«
»Jetzt werde um Himmels willen nicht melodramatisch.«
»Wenn es in Beziehungen Schwierigkeiten gibt, dann sollte man gemeinsam daran arbeiten.«
»Darin
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