Wehe Dem, Der Gnade Sucht
war ich noch nie besonders gut. Ich habe immer alles mit mir allein ausgemacht. Liegt vielleicht daran, dass ich noch so jung war, als ich meine Mutter verloren habe.«
Anfangs hatten sie darüber Witze gemacht – dass sie in ihrer Beziehung die »männliche Rolle« einnahm und er die »Frau« war. Doch genau das trennte sie nun voneinander wie eine unüberwindliche Mauer.
»Es gibt noch etwas, das ich dir sagen wollte«, begann sie.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich … werde eine Therapie machen.«
»Sehr gut. Das ist in dieser Situation bestimmt genau das Richtige.«
»Aber ich habe Angst, weil ich fürchte, dass es mir am Ende … so wie dir ergeht.«
»Du weißt doch, dass jeder Mensch anders reagiert«, antwortete er. »Nur weil du eine Therapie machst, heißt das noch lange nicht, dass du eine klinische Depression bekommst. Im Leben jedes Menschen gibt es ein paar hässliche Wahrheiten, die er lieber verdrängt. Es kostet Mut, sich ihnen zu stellen, und der Prozess wird sicher schmerzlich – aber das bedeutet nicht, das es dir am Ende wie mir ergeht.«
»Das klingt grässlich – bitte entschuldige.«
»Wo wir gerade dabei sind: Meine einzige Schwester wurde von einem psychopathischen Irren ermordet, und ich kann mit meiner Mutter nicht einmal darüber reden. Also, falls es nicht irgendetwas über deine Familie gibt, was du mir verheimlicht hast, musst du dir wohl wegen einer Depression keine allzu großen Sorgen machen.« Man hörte, wie wütend er war, aber das kümmerte ihn nicht. Kathy war schließlich nicht die Einzige mit Problemen!
Die beiden schwiegen sich an. Es gab nichts mehr zu sagen. Jedes weitere Wort hätte es nur noch schlimmer gemacht.
Sie tranken ihre Gläser aus, zahlten und gingen zusammen nach draußen in die Dämmerung. Ein scharfer Wind blies vom East River herüber. Lee wurde bewusst, dass er Kathy vielleicht gerade zum letzten Mal sah.
Sie stand am Bordstein, um eines der Taxis anzuhalten, die über die Second Avenue brausten. Dann drehte sie sich kurz zu Lee um, als wollte sie noch etwas sagen. Doch in dem Moment hielt mit quietschenden Reifen ein Taxi.
»Ich ruf dich an«, versprach sie und stieg ein. Der Wagen fuhr davon.
Auf seinem Heimweg durch die dunkler werdenden Straßen registrierte Lee all die Pärchen, die Arm in Arm vorübergingen. Noch vor ein paar Tagen waren er und Kathy auch so ein Paar gewesen. Und jetzt ging er allein nach Hause, während sie auf dem Weg zum Zug war.
Er verstand, dass sie Angst hatte; die hatten sie beide.
KAPITEL 49
Tropf, tropf, tropf …
Elena Krieger stöhnte, als sie langsam wieder zu Bewusstsein kam. Es war kalt, so kalt … Sie öffnete die Augen, aber es war finster. Elena blinzelte heftig und starrte in die Dunkelheit.
Tropf, tropf, tropf …
Elena versuchte ihre Glieder zu bewegen, doch sie war gefesselt und geknebelt. Ihre Hände waren zur Sicherheit an ihre Füße gebunden.
Tropf, tropf, tropf …
Das Geräusch war zum Wahnsinnigwerden. Schlimmer als die Fesseln, die ihr das Blut abschnürten und der Knebel, der fest um ihren Mund gebunden war. Sie kämpfte gegen die Fesseln an, aber dadurch scheuerte sie sich nur wund und vergeudete ihre Kräfte. Gott, war sie durstig, so durstig.
Tropf, tropf, tropf …
Sie nahm den modrigen Geruch von Dreck und feuchten Steinen wahr und begriff, dass sie sich in einem Keller befand. Im trüben Licht konnte sie eine Reihe staubiger Glasbehälter in einem Regal ausmachen. Einweckgläser.
Aus irgendeinem Grund heiterte sie diese Erkenntnis auf. Der Besitzer dieses Kellers kochte ein. Genau wie ihre Tante in Düsseldorf, die jeden Sommer Tonnen frischer Marmelade herstellte: aus schwarzen Johannisbeeren, Erdbeeren oder Brombeeren – Elenas Lieblingssorte. Ihr schossen Tränen in die Augen.
Beherrsch dich, ermahnte sie sich.
Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie überhaupt in diesen Keller geraten konnte … sie wusste nur noch, wie sie in die Limousine mit dem netten jungen Fahrer gestiegen war. Er hatte ihr eine Flasche Wasser angeboten – das war es. Er hatte sie unter Drogen gesetzt! Bei der Erkenntnis war ihre Scham größer als ihre Angst. So etwas passierte jemandem wie ihr einfach nicht – nicht einer Elena Krieger!
Sie wusste sofort, wer ihr Entführer war – es war der Mann, auf den sie Jagd gemacht hatte – und jetzt hatte er sie in seiner Gewalt. Warum lebte sie überhaupt noch? Was hatte er mit ihr vor? Sie wollte nicht darüber nachdenken, denn die Angst trieb
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