Wehe Dem, Der Gnade Sucht
»Das glaube ich nicht.«
»Sie werden jeden zur Verfügung stehenden Mann und alle notwendigen Mittel einsetzen, um Sie zur Strecke zu bringen. Wenn die Sie erwischen, sind Sie erledigt.«
Seine Augen verengten sich ein wenig. Offensichtlich war er nun doch etwas verunsichert. Ein Hoffnungsschimmer für Elena.
»Und falls die Sie nicht gleich an Ort und Stelle erledigen, wissen Sie ja, was man mit Polizistenmördern im Knast macht.«
»Man gibt ihnen eine Belohnung, nehme ich doch an.« Er versuchte, cool zu tun, klang aber wenig überzeugend.
Elena versuchte zu lachen, ebenfalls nicht sehr überzeugend. »Die Insassen vielleicht – aber ich meine die Wärter. Die werden Sie vergewaltigen. Erst nacheinander, dann alle zusammen. Und anschließend –«
Aus dem oberen Stockwerk war Tumult zu hören. Es klang, als würde ein Tier an der Kellertür kratzen. Der Kopf des Mörders schnellte herum, dann wandte er sich wieder Krieger zu.
»Um dich kümmere ich mich später.«
Er machte auf dem Absatz kehrt, schaltete die Deckenlampe wieder aus und stürmte die Treppe hinauf.
Krieger blieb allein in der Dunkelheit zurück. Ihr Körper begann heftig zu zittern. Sie holte tief Luft und begann wieder zu beten: Lieber Gott, mach mich fromm …
KAPITEL 50
»Ihr Name ist Carolyn Benton und sie ist – war – sechzehn Jahre alt.«
Chuck Morton warf eine Mappe mit Fotos der Leiche auf den Schreibtisch und funkelte die drei Männer in seinem Büro finster an. Er sah wütend, müde und genervt aus. Aber so fühlen wir uns hier alle, dachte Lee, als er seinen Freund betrachtete. Morton suchte in seiner Schreibtischschublade nach ein paar Reißzwecken, um die Fotos neben die der anderen Opfer an die Pinnwand zu hängen. Die Bilder der geschundenen, toten Körper waren ein Symbol dafür, wie ohnmächtig und hilflos sich alle Anwesenden im Raum fühlten. Während die meisten anderen Menschen jetzt daheim beim Abendessen waren, saßen sie hier in diesem engen Büro fest und konnten rein gar nichts ausrichten.
Für Lee hätte es gar nicht schlimmer kommen können. Noch immer war ein Serienmörder auf freiem Fuß, er und Kathy sprachen nicht mehr miteinander, und Krieger wurde vermisst. Arme, närrische, tapfere Krieger – obwohl er sie eigentlich nicht besonders mochte, hatte er doch mit der Zeit gelernt, ihre Hartnäckigkeit zu schätzen.
Und jetzt auch noch das. Er betrachtete die Fotos von Carolyn Benton, die auf dem Tisch verstreut lagen. Ihr toter Körper hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Foto, das sie zusammen mit ihren Angehörigen zeigte. Die ganze Familie stand aufgereiht vor einem großen Kamin aus Marmor. Alle trugen teuer aussehende Pullover im Partnerlook aus dicker, weicher irischer Wolle mit roten und weißen Weihnachtsapplikationen. Carolyns Vater hatte eine Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf. Ihre Mutter war eine kleine, aber athletisch aussehende Frau, deren winterliche Bräune sicher nicht aus einem Sonnenstudio, sondern eher von einer Kreuzfahrt durch die Karibik stammte. Carolyns Bruder, ein gut aussehender junger Mann, wirkte wie ein Erstsemester in Yale oder Duke.
Lee hielt das Foto der Familie in die Höhe. »Woher hast du das?«
Chuck fuhr sich mit der Hand über seinen blonden Bürstenhaarschnitt und musterte seine Schuhe. »Das hat die Familie mitgebracht, als sie heute Morgen die Leiche identifiziert hat. Damit wir wissen, wie sie wirklich aussah.«
Lee konnte das verstehen. Auf den Fotos vom Tatort lag Carolyn am Ufer des East River, in dem man sie ein paar Stunden zuvor gefunden hatte. Ihre Augen waren entfernt worden. Die Nachricht in dem wasserdichten Plastikbeutel war diesmal nicht an ihrem Körper angeheftet gewesen, sondern in ihren Mund gesteckt worden.
Sergeant Ruggles betrachtete die Fotos und sah dann nervös zu seinem Chef hinüber. Nachdem Krieger verschwunden war, hatte er geradezu darum gebettelt, offiziell dem Ermittlungsteam zugeteilt zu werden. Chuck hatte sich schließlich erweichen lassen und ihn für die Dauer der Untersuchung vom Schreibtischdienst abgezogen.
»Leider gibt es noch was.« Morton stieg das Blut in die Wangen. »Die Familie hat dieses Foto bereits an die Medien gegeben. Die planen sogar schon Interviews – nach dem Motto: die liebenden Hinterbliebenen des Opfers.«
»Glauben die, dass uns das hilft, den Kerl zu schnappen?«, fragte Butts angewidert. »Oder sind die einfach mediengeil?«
»Wer weiß«, antwortete Chuck. »Aber wenn wir nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher