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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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antwortete Lee. Es wäre kontraproduktiv gewesen bei McNamara anzurufen und sich anzukündigen. Blieb also nur zu hoffen, dass sie Glück hatten und ihn zu Hause überraschen würden.
    Nur leider hatte Lee keinen Zweifel daran, dass McNamara zu clever war, um nach dem Mord an seinem Therapeuten und der Entführung seelenruhig in seinem Wohnzimmer herumzusitzen. Seine letzte Tat war ein Ausdruck unkontrollierter Raserei gewesen. Da McNamara bisher immer darauf geachtet hatte, seine Spuren geschickt zu verwischen, vermutete Lee, dass er nach dem Mord an Perkins schnell wieder einen klaren Kopf bekommen hatte. Immerhin war er geistesgegenwärtig genug gewesen, die Tatwaffe mitzunehmen.
    Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass Charlotte ihren Bruder umgebracht und sich aus dem Staub gemacht hatte, aber daran glaubte Lee nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie einen Hilferuf per SMS geschickt hatte, um sich anschließend einen schweren Gegenstand zu besorgen und zuzuschlagen.
    Das Haus der McNamaras war am Ende einer schmalen Straße gelegen, etwa eine Meile entfernt vom Zentrum ihrer kleinen Heimatstadt, in dem es ein Restaurant und ein paar Geschäfte gab. Es stand kein Wagen vorm Haus. Butts parkte vor der Einfahrt, und die drei stiegen schweigend aus.
    »Sie bleiben besser wieder hier draußen und halten die Augen offen«, sagte Butts zu Diesel, als er und Lee die Auffahrt hinaufgingen. Lee hätte Diesel lieber mitgenommen, sollte es nämlich zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung kommen, wäre der sicherlich hilfreicher als der kleine dicke Detective. Rechtlich gesehen bewegten sie sich allerdings auf dünnem Eis: Lee und Butts gehörten zur New Yorker Polizei, Diesel nicht.
    Das Gebäude war ein typisches Farmhaus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das man über die Jahre durch Anbauten erweitert und modernisiert hatte. Das Grundstück wirkte gepflegt und hatte nach hinten hinaus einen Gemüsegarten und einen Brunnen, über dem an einem Rankgitter Rosen wuchsen. Das frische Weiß der Veranda verlieh dem Haus etwas Freundliches. Auf einer der Säulen der Veranda neben der obersten Stufe stand eine Statue des Grünen Mannes. Er war anders als der vorm Haus der Perkins-Geschwister und unterschied sich auch von dem, den Ana besaß. Die Statue war aus Gips, größer und sah sogar noch furchterregender aus. Jemand hatte ein paar echte Äste und Laubzweige dahinter eingeklemmt, sodass es aussah, als wuchsen sie dem Grünen Mann tatsächlich aus dem Schädel. Lee zupfte den Detective am Ärmel und deutete auf die Statue. Butts drehte sich danach um und nickte. Dann zog er seine Dienstwaffe und erklomm die knarrenden alten Stufen.
    Die Haustür stand nach innen offen. Nur die Fliegengittertür versperrte den Weg in die Diele. Butts zog am Seil neben der Tür, das an einer altmodischen Glocke hing. Das hohle Geläut ließ Lee einen Schauer über den Rücken laufen. Frag nie, wem die Stunde schlägt …
    »Aufmachen, Polizei!«, rief Butts. Keine Antwort. Lee spähte durch die Fliegengittertür. Im Haus rührte sich nichts. Er lauschte angestrengt, ob er ein Geräusch von drinnen hören konnte, doch alles blieb still. Kein Knarren, keine leisen Schritte eines Flüchtenden.
    »Polizei! Wenn Sie da drin sind, öffnen Sie die Tür!«, rief Butts erneut, doch wieder blieb alles ruhig. Er sah Lee an und fuhr sich durch sein dünnes Haar. »Wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss. Und ich glaube nicht, dass uns der Richter Gefahr im Verzug abkauft. Wir kommen so nicht weiter.«
    Ratlos sahen sie sich an und überlegten, was sie nun tun könnten. Mücken tanzten am anderen Ende der Veranda in der Luft. Eine leichte Brise wehte den Duft von Geißblatt heran, in den sich der Geruch von Tomatensträuchern und Geranien mischte. In den Wäldern begannen die Zikaden ihre eintönige Melodie zu zirpen und läuteten damit das Ende des Sommers ein.
    Plötzlich war ein Geräusch aus dem Inneren des Hauses zu hören. Das leise Rascheln schien vom anderen Ende der Diele zu kommen. Lee presste das Gesicht gegen die Fliegengittertür und versuchte etwas in dem dunklen Korridor zu erkennen.
    »Hey, vorsichtig«, zischte Butts. Aber Lee reagierte nicht, sondern starrte die Gestalt an, die sich der Tür näherte. Instinktiv wusste Lee, dass von diesem Mensch keine Gefahr ausging.
    »Hallo?«, rief er. Die Gestalt blieb stehen. Im nächsten Augenblick brach sie zusammen. Lee sah unsicher zu Butts, aber der hatte schon den

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